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Am nächsten Morgen war ich mit meinem Manuskript zur Stelle und schellte an der Tür. Reinach öffnete mir selbst. Er war ganz allein zu Hause; seine Frau war in Stuttgart, um seiner Schwester beizustehen, die dort ihr Abitur machte. Pauline war älter als er; sie hatte sich so spät noch zum Studium entschlossen und das gedächtnismäßige Lernen war ihr sehr mühsam. Beim ersten Versuch war sie durchgefallen, der zweite war nun um so aufregender. Als ich kurze Zeit da war, schellte es nochmals und Reinach mußte wieder an die Tür. Als er zurückkam, berichtete er im Ton eines Kindes, das einen eingelernten Auftrag hersagt: „Der Metzger! Nein, wir brauchen nichts“. So hatte es ihm Auguste eingeschärft, ehe sie zum Markt ging.

Diesmal war ich nicht mehr ganz so ängstlich wie bei der ersten Prüfung. Reinach war sehr befriedigt. Ich fragte ihn, ob die Arbeit wohl fürs Staatsexamen ausreichen würde. O gewiß! Husserl werde sich darüber freuen, er bekäme nicht oft solche Arbeiten. Ich könnte nun völlig unbesorgt in die Ferien fahren. Wir nahmen fröhlichen Abschied bis zum April.

Nach diesen beiden Besuchen bei Reinach war ich wie neugeboren. Aller Lebensüberdruß war verschwunden. Der Retter aus der Not erschien mir wie ein guter Engel. Es war mir, als hätte er durch ein Zauberwort die ungeheuerliche Ausgeburt meines armen Kopfes in ein klares und wohlgeordnetes Ganzes verwandelt. An der Zuverlässigkeit seines Urteils zweifelte ich nicht. Ich legte die Arbeit beruhigt bei Seite, um nun alle Anstrengungen auf die Vorbereitung zur mündlichen Prüfung zu verwenden. Wenn ich auch erst sechs Semester hinter mir hatte, so war ich doch insofern gut dran, als mir fast die ganze Zeit zur Verfügung stand, die man sonst für die beiden großen Arbeiten verwenden mußte. Daß ich diese Arbeiten schon fertig hatte, entsprach ja nicht den Prüfungsbestimmungen.

Die offizielle Meldung zum Staatsexamen war beim Provinzialschulkollegium einzureichen; Lebenslauf, genaue Darlegung des Studiengangs, Nachweis der nötigen Vorlesungen und Übungen und die Exmatrikel waren beizufügen. Dann wurde die Prüfungskommission zusammengestellt, die ernannten Examinatoren hatten die Themen zu stellen und man bekam für jedes drei Monate Zeit. Erst wenn sie abgeliefert waren, wurde der Termin für die mündliche Prüfung festgesetzt. Man durfte keine Wünsche für die Zusammensetzung der Kommission äußern. Das Kunststück war, den Studiengang und die speziellen Arbeitsgebiete so darzustellen, daß sachlich niemand anders als die eigenen Lehrer, die man wünschte, für die Abnahme der Prüfung in Frage kommen konnte. Dieses Kunststück brachte ich fertig: Husserl wurde für Philosophie, Weißenfels für Germanistik

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/222&oldid=- (Version vom 31.7.2018)