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gefaßt, sie an der Quelle zu studieren. Ein kühner Entschluß war es, weil sie kein Abitur hatte und nur mit persönlicher Erlaubnis der Dozenten Vorlesungen hören konnte. Diese Erlaubnis erhielt sie von Husserl und Reinach, und ich mußte ihr „Stunden“ geben, um ihr über die Anfängerschwierigkeiten hinwegzuhelfen. Ich las mit ihr die „Logischen Untersuchungen“. Sie war sehr glücklich über diese Stunden. Ich mußte mich auch entschließen, ein Honorar dafür anzunehmen. Sie bestand darauf – Rose hätte es ja auch getan – und bestimmte selbst die Höhe, die mich erst recht beschämte. Ich hatte mein Zimmer in der Schillerstraße behalten; Toni nahm eine geräumigere und elegantere Wohnung am Feuerschanzengraben, nicht sehr weit von mir entfernt. Sie war entsetzt über meine Lebensweise: die lange Arbeitszeit, den kurzen Schlaf, die Gleichgültigkeit gegen die Verpflegung, die mangelnde Erholung. Die Dame, bei der sie wohnte, empfahl ihr einen guten Privatmittagtisch am Friedländerweg, und sie bat mich, doch mit dort zu essen. Da ich in Dingen, die ich für unwesentlich hielt, nicht eigenwillig war, ging ich ohne weiteres darauf ein. Meist holte sie mich dazu ab und begleitete mich auch wieder nach Hause. Bald bat sie auch um die Erlaubnis, mich zu einem kleinen Abendspaziergang abholen zu dürfen. Nach einiger Zeit sagte sie mir auf einem solchen Abendspaziergang: so glücklich sie über diese beginnende Freundschaft sei, so müsse sie mir doch etwas sagen, was mich vielleicht veranlassen werde, den Verkehr mit ihr aufzugeben. Sie sei zeitweise geisteskrank gewesen; ihre Ermüdbarkeit und andere Störungen, z.B. neuralgische Schmerzen im Kopf und im Arm, die Hemmungen beim Gehen, hingen damit zusammen. Die Krankheit hatte auch ein regelrechtes Studium und die Ablegung von Prüfungen unmöglich gemacht. Ich konnte ihr beruhigend sagen, daß mir die Tatsache längst bekannt sei (meine Mutter hatte sie durch einen Geschäftsfreund erfahren, der nahe Beziehungen zur Familie Meyer hatte) und daß sie mich durchaus nicht abschrecke. Das nahm ihr offenbar einen Stein vom Herzen. Nun erst konnte sie das Glück der Freundschaft ungestört genießen. Sie betrachtete es schon als ein großes Geschenk, daß ein junger, gesunder und gut begabter Mensch mit ihr wie mit seinesgleichen verkehren mochte. Dazu kam, daß sie schon eine große persönliche Zuneigung zu mir gefaßt hatte und eine Hochschätzung, die sie zu mir, der so viel Jüngeren, verehrungsvoll aufblicken ließ. Das hing wohl damit zusammen, daß infolge ihres Geisteszustandes bei ihr alle Gefühle etwas gesteigert waren. Er machte sie allerdings auch sehr empfindlich gegen menschliche Schwächen und hemmungslos in der Kundgabe ihrer Gesinnungen. Dieser Sommer in Göttingen ist wohl der glücklichste ihres Lebens

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/225&oldid=- (Version vom 31.7.2018)