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gewesen. Nie vorher und niemals später war sie so leistungsfähig und so frei von den Depressionszuständen, von denen sie sonst in kürzeren oder längeren Abständen heimgesucht wurde. Sie besuchte Vorlesungen und Übungen bei Husserl und Reinach, ging mit mir in die Philosophische Gesellschaft, nahm an meinen Sonntagsspaziergängen mit dem guten Danziger teil, der sofort bereit war, alle Rücksichten zu nehmen, deren sie bedurfte, und war dabei fröhlich wie ein Kind. Einmal trafen wir uns mit meiner Schwester Else in Hildesheim. Die wunderschöne alte Stadt kennenzulernen, war für uns alle ein Fest. Dazu kam noch für Else die Gelegenheit einer gründlichen Aussprache, wonach sie sich immer sehnte. Toni verstand es, den etwas unbeholfenen Danziger zu beschäftigen, so daß wir uns ungestört sprechen konnten. Sie versäumte es aber nicht, manchmal eine Strecke mit Else allein zu gehen, um sie kennenzulernen und ihr herzliche Teilnahme zu zeigen.

In diesen Sommer fiel auch der Besuch von Erna und Hans Biberstein, über den ich früher berichtete. Ich habe erzählt, wie Toni und Erich Danziger mir halfen, meine Gäste zu versorgen und zu unterhalten. Hans wurde bei Danziger einquartiert, für Erna konnte mir Frau Mußmann, meine gute Wirtin, ein Zimmer zur Verfügung stellen. Das Abendessen nahmen wir meist zu viert in meinem Zimmer, manchmal waren wir auch alle bei Toni eingeladen. Mittag waren meine Gäste meist ausgeflogen, sonst gingen wir, wenn ich mich recht erinnere, wieder in das nette vegetarische Speisehaus. Unser Privatmittagtisch war für diese Tage nicht geeignet, weil man dort an einer langen Tafel aß, an der keine vertrauliche Unterhaltung möglich war.

Die liebevolle Fürsorge, mit der mich Toni umgab – sie hatte z.B. bald eine Gärtnerei in unserer Nähe entdeckt und versorgte mein Zimmer mit frischen Blumen – ihr warmer Anteil an allem, was mich betraf, hat sicher dazu beigetragen, daß dieser Sommer wieder recht sonnig für mich wurde. Natürlich kam dazu, daß ich die schwere Last des letzten Winters los war. Es blieb zwar ein großes Arbeitspensum für die mündliche Prüfung zu bewältigen, außerdem die Überarbeitung der philosophischen Staatsarbeit mit Rücksicht auf das veränderte Thema, aber das alles war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was hinter mir lag. Eine wesentliche Erleichterung für das rein gedächtnismäßige Einprägen des Prüfungsstoffes war es, daß sich Arbeitsgefährtinnen zu mir fanden.

Für Geschichte war es eine Studierende Lehrerin aus Lehmanns Seminar: Käthe Scharf aus Hirschberg, also eine schlesische Landsmännin. Sie war ein fröhlicher Mensch und wollte sich auch das Examen möglichst gemütlich machen. Die Meldung schob sie noch

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/226&oldid=- (Version vom 31.7.2018)