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deutschgebliebenen Teil von Oberschlesien, die beiden Tanten gingen nach Berlin, um dort mit ihrem unverheirateten Bruder einen gemeinsamen Haushalt zu begründen. Es war in der Zeit der größten Wohnungsnot. Um ein Unterkommen zu finden, kauften sie selbst ein Haus, konnten aber keine Wohnung darin frei bekommen. Sie hatten ihre Möbel auf dem Speicher stehen und wohnten im eigenen Haus in zwei möblierten Zimmern, die sie ihren eigenen Mietern teuer bezahlen mußten. Die übermäßigen Anstrengungen und Aufregungen der letzten Jahre, der Verlust der Heimat, das Aufhören der gewohnten Arbeit, der Mangel einer geregelten und gemütlichen Häuslichkeit – das alles zehrte die Kräfte meiner Tante auf. Gelegentlich einer Reise nach Schlesien erlitt sie in Breslau einen schweren Schlaganfall. Es dauerte lange, ehe sie wieder zum Bewußtsein kam. Die ganze Familie zitterte um ihr Leben, obgleich die Ärzte sagten, man könne es ihr nicht wünschen, wieder zu erwachen. Nach anfänglicher Lähmung erlangte sie zunächst Sprach- und Sehfähigkeit wieder. Dann kam ein allmählicher Rückgang aller Fähigkeiten. Sie war nacheinander in verschiedenen verwandten Familien zur Pflege, bis schließlich die meisten ihrer Geschwister zu der Überzeugung kamen, daß die Überführung in ein Krankenhaus nötig sei. Dagegen setzte sich meine Mutter entschieden zur Wehr, und ihre Kinder unterstützten sie darin. Wir sahen, wie sehr die Kranke darunter leiden würde, wenn sie in einer fremden Umgebung leben müßte. Die große Liebe zu ihren Angehörigen, die sie früher in so vielen Wohltaten betätigt hatte, war unvermindert geblieben. Der einzige Dank, der in Betracht kam, war, daß man ihr den Trost ließ, unter vertrauten Menschen zu sein. So nahm meine Mutter sie mit ihrer Schwester Clara, die immer mit ihr zusammengelebt hatte, in unser Haus. Sie hat noch zwei Jahre bei uns gelebt, und meine Mutter hat das langsame Sterben dieser geliebten Schwester, die 10 Jahre jünger war als sie selbst, mit ansehen müssen. Hand und Fuß waren gelähmt, die Sprachfähigkeit nahm mehr und mehr ab; es blieben schließlich nur wenige Worte, die mechanisch wiederholt wurden oder auch beschwörend, weil sie einen Sinn kundgeben sollten, für den kein angemessener Ausdruck gefunden werden konnte. Allmählich versagte nicht nur die Ausdrucksfähigkeit, sondern auch das Verständnis. Es war schließlich sehr schwer zu beurteilen, was überhaupt noch aufgefaßt wurde. Eine beständige Unruhe war in ihr. Man konnte sie nicht mehr ohne Aufsicht lassen, weil sie versuchte aufzustehen und fortzugehen. Offenbar hatte sie das Gefühl, in einer fremden Umgebung zu sein, und wollte nach Hause. Aber der Verfall aller geistigen Fähigkeiten konnte den Kern der Persönlichkeit nicht zerstören. Sie blieb gut und liebevoll,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)