Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/234

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Aber so rasch ging das nicht. Es war Überfluß an Hilfskräften. Nach vierwöchentlicher Ausbildung bestanden wir die Helferinnenprüfung. Aber es kam keine Einberufung. Ich durfte mich zur Übung im Allerheiligenhospital weiter betätigen. Einige Wochen war ich auf einer Tuberkulosenstation, dann auf einer chirurgischen Station in einem Zimmer, in dem meist überfahrene Kinder lagen. Zuletzt half ich in der chirurgischen Poliklinik. Überall fand ich reichlich Arbeit. Nirgends brauchte man sich als fünftes Rad am Wagen zu fühlen. Das Allerheiligenhospital ist ein großes Städtisches Krankenhaus. Es beschäftigt verhältnismäßig wenig voll ausgebildete Krankenschwestern; die meiste Arbeit wird von „Wärterinnen“ gemacht: Mädchen ohne Vorbildung, die zunächst für die häuslichen Arbeiten angestellt werden, aber allmählich unter der Leitung der Stationsschwester oder Stationswärterin die praktischen Handgriffe der Krankenpflege erlernen und verrichten. Ich bekam den Eindruck, daß die Kranken wenig an liebevolle Aufmerksamkeit gewöhnt waren und daß freiwillige Hilfskräfte an solchen Stätten des Leidens dauernd ein reiches Feld für werktätige Nächstenliebe finden würden. Freilich wäre es wohl eine dornenvolle Aufgabe, und es würde wahrscheinlich auch erst einen Kampf kosten, um überhaupt Zutritt zu erlangen. Uns machte man damals keine Schwierigkeiten, weil wir ja zum Zweck unserer Ausbildung und nur für ein paar Wochen da waren.

Meine freiwillige Tätigkeit fand dadurch ein Ende, daß ich mir dabei im Oktober einen schweren Bronchialkatarrh holte. Als er vorbei war, stand der Beginn des Wintersemesters unmittelbar bevor. Ich hatte im August nicht daran gedacht, im Winter wieder nach Göttingen zu gehen. Da aber keine Aussicht auf Einberufung zum Lazarettdienst zu bestehen schien, hatte ich während meiner Krankenhauszeit in den Mittagpausen meine Staatsarbeiten vorgenommen und die letzte Hand daran gelegt. Im November waren sie abzuliefern. Und nun fand ich, wenn ich doch vorläufig im „Heeresdienst“ keine Verwendung finden könnte, so wäre es das Gescheiteste, nach Göttingen zu gehen und während der Wartezeit die Prüfung zu erledigen. An meiner Einstellung hatte sich nichts geändert. Ich hätte mich jeden Tag gefreut, wenn man mich von meinen Büchern abgerufen hätte. Die Prüfung erschien mir als etwas lächerlich Unwichtiges im Verhältnis zu den Zeitereignissen, die uns natürlich während dieser Monate dauernd in Spannung hielten. Ich hatte in Breslau manches an Kriegseindrücken erlebt. Die Russen waren zwar nicht gekommen. Wohl hatten sie gleich in den ersten Augusttagen in Oberschlesien die Grenzen überschritten, waren aber schnell zurückgedrängt worden. Dafür erfand die

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/234&oldid=- (Version vom 31.7.2018)