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Kriegspsychose die erstaunlichsten Schreckbilder. Das Gerücht, die Russen hätten uns das Trinkwasser vergiftet, führte sogar zu sehr peinlichen obrigkeitlichen Verordnungen. Wir bekamen kein Wasser aus dem Städtischen Wasserwerk, man mußte wie in alten Zeiten von den Brunnen an den Straßenecken Wasser holen; um Wasser zu sparen, sollte man das Baden auf ein Mindestmaß einschränken, keine weißen Kleider und keine weißen Schuhe tragen.

Indessen verfolgten wir im Siegesjubel den Vormarsch unserer Armeen in Frankreich, bezeichneten sie mit bunten Stecknadelköpfen auf unsern Landkarten und warteten auf den Tag, wo „wir“ in Paris einrücken könnten. Es war wie eine glanzvolle Wiederholung des Feldzugs von 1870, den wir aus den Schulbüchern im Kopf hatten und unsere Eltern aus eigenem Miterleben. Ganz unfaßlich war der große Rückschlag der ersten Marneschlacht.

Eines meiner ersten niederdrückenden Kriegerlebnisse war der Anblick einer langen Reihe von Pferden, die für den Heeresbedarf eingefordert waren und durch die Straßen geführt wurden. Ich mußte an eine große Saugpumpe denken, die alle Kraft aus dem Lande herausholte. Ähnlich beklemmend wirkte einige Monate später der Anblick des völlig toten Hamburger Hafens mit seinem Wald von starren Schornsteinen und segellosen Masten.

Meine Brüder waren nicht im Feld. Paul wurde bei jeder Musterung für dienstuntauglich erklärt. Arno wurde im Sanitätsdienst verwendet, und zwar so, daß er nicht dauernd abwesend zu sein brauchte, sondern nur Transportzüge zu begleiten hatte. Aber viele meiner Vettern waren im Feld und die Göttinger Studiengefährten wohl alle. Ein ganzes Göttinger Freiwilligenregiment stand in den heißesten Kämpfen in Flandern. Viele Studenten waren dort eingetreten, andere hatten sich in ihrer Vaterstadt gemeldet und waren in die Heimatregimenter eingereiht worden. Reinach wurde als Kanonier in Mainz ausgebildet. Moskiewicz hatte sich als Arzt zur Verfügung gestellt. Felddiensttauglich war er nicht; er wurde als Oberarzt in der Städtischen Irrenanstalt für den Kollegen, der ins Feld mußte, verwendet.

Die erste Todesnachricht aus unserm Bekanntenkreis kam schon im August: Robert Staiger, der Göttinger Privatdozent für Kunstgeschichte, zugleich Leiter des akademischen Orchesters, das aus Studenten gebildet war und mit Eifer edelste Klassische Musik pflegte. Jahrelang war er heimlich mit Elisabeth Klein verlobt, der Tochter des Mathematikers Felix Klein. Der Vater war gegen die Heirat und verbot dem Bewerber das Haus. Felix Klein spielte durch seine überragende Persönlichkeit eine beherrschende Rolle in Göttingen. Man wagte ihm nicht zu widersprechen. Elisabeth (in der

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/235&oldid=- (Version vom 31.7.2018)