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die schon vor Kriegsausbruch abgeliefert war. Als ich nach Göttingen kam, erzählte mir Husserl, daß Bell jetzt im „Karzer“ in Haft gehalten werde. Er habe ihn schon dort besucht und ich könne es wohl auch tun, man müsse sich aber dazu die Erlaubnis des Polizeidirektors holen. Natürlich war ich sofort entschlossen, mir diese Erlaubnis zu erbitten. Außer der freundschaftlichen Teilnahme für den Gefangenen spielte wohl auch ein wenig die Romantik eines „Besuchs im Karzer“ mit. Dieses Lokal hatte ich bisher noch nicht gesehen. Es lag im obersten Stock der „Aula“, die ich bisher nur bei festlichen Anlässen betreten hatte und zu Beginn jedes Semesters, um meine Kolleggelder zu bezahlen, denn in diesem Gebäude waren die Geschäftsräume der Universität. Der Polizeidirektor bewilligte mir die Erlaubnis ohne Schwierigkeiten. Ich erhielt einen Schein mit dem Vermerk, daß ich am folgenden Sonntag vormittag von 111/2-12 h im Karzer sein dürfte. Mit diesem Schein meldete ich mich am Sonntag beim Hausverwalter der Aula. Dessen freundliche Frau führte mich hinauf, schloß die Tür auf und – zu meiner großen Überraschung hinter mir wieder zu. Ich war also für eine halbe Stunde mitgefangen. Bell begrüßte mich mit Freude. Die Handbewegung, mit der er mich zum Platznehmen einlud, verwandelte den rohen Holzstuhl in einen Korbsessel. Ich mußte zunächst den Raum besichtigen: es sei kein übler Aufenthalt. In der Tat – ein helles, geräumiges Zimmer; an einer Wand ein kunstvolles Gemälde, von einem früheren Bewohner herrührend: die „Mütze“, jene berühmte Göttinger Weinstube, das netteste alte Haus der Stadt. Dazu manche andere Wandzeichnungen von weniger kunstgeübter Hand. Viel Hausrat war nicht da, aber alles Notwendige: eine eiserne Bettstelle mit einer groben Wolldecke, zwei Holzstühle und ein fester Holztisch mit vielen Büchern darauf.

Der Gefangene war durchaus zufrieden mit seinem Los und ohne jede Bitterkeit gegen die Leute, die seine Haft veranlaßt hatten. Man hatte ihn nicht länger in seiner Wohnung lassen wollen und seine Überführung ins Polizeigefängnis beantragt. Das war aber in Göttingen nicht für längeren Aufenthalt eingerichtet. Es diente nur dazu, gelegentlich einen Betrunkenen für eine Nacht zu beherbergen o.dgl. Längere Haft mußte in Hannover abgebüßt werden. In dieser Verlegenheit hatte sich der Rektor der Universität, der Mathematiker Runge, ins Mittel gelegt. Er erklärte, er könne ein geeignetes Lokal – eben den Karzer – zur Verfügung stellen. Professor Runge war ein gütiger und edler Mensch, Patriot, aber kein Nationalist. (Er hatte alles, was er an Barvermögen besaß, in Kriegsanleihe verwandelt in dem Gedanken: wenn Deutschland zu Grunde geht, brauchen wir auch unser Privatvermögen nicht mehr). Für Bell

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/237&oldid=- (Version vom 31.7.2018)