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rührend dankbar für jeden kleinen Liebesdienst. Als sie keine Worte mehr fand, dankte sie mit Liebkosungen; in gesunden Tagen war sie damit zurückhaltend gewesen. Sie war 67 Jahre alt, als sie starb. Ich war damals nicht zu Hause. Aber meine Mutter und meine Schwester Rosa sind in der letzten Stunde bei ihr gewesen. Es war eine der großen schmerzlichen Erfahrungen in ihrem langen, leidensreichen Leben.


3.

Meine Mutter war, wie ich schon sagte, das 4. der 15 Geschwister Courant. (Wir haben als Kinder die Namen dieser 15 Geschwister rhythmisch auswendig gelernt wie in der Religionsstunde die Namen der 12 Söhne Jakobs: Bianca, Cilla, Jakob, Gustel,/ Selma, Siege, Berthold, Malchen,/ David, Mika, Eugen, Emil,/ Alfred, Clara, Emma). Von früher Jugend an war sie an unermüdliche Arbeit gewöhnt. Vom 6. Jahr an strickte sie mit ihrer Schwester Selma um die Wette. Der Strickstrumpf gehört bis heute notwendig zu ihr. Wenn sie keine dringendere geschäftliche oder häusliche Arbeit hat, strickt sie und liest dabei. Das war aber zeit ihres Lebens nur eine Erholung. Ich erwähnte schon, daß sie abwechselnd mit ihren Schwestern den großen Haushalt führte und im Geschäft tätig war. Schon mit 8 Jahren war sie so tüchtig, daß die Eltern sie auswärtigen Verwandten im Notfall zur Hilfe schickten. Es war ihr die härteste Arbeit nicht zu schwer, und man schätzte sie so, daß der sonst geizige Onkel ihr zum Dank teure Geschenke machte, z.B. einen Hut, der für eine Dame gepaßt hätte. Mitten im Winter ging sie mit ihm zum Markt und kassierte das Geld ein, während er verkaufte. Es ist sehr charakteristisch, wie dieser Aufenthalt endete: der Onkel ließ sich im Ärger hinreißen, in häßlichen Ausdrücken von ihren Eltern zu sprechen. Das konnte sie nicht ertragen. Sie lief heimlich davon und ließ sich von einem Lastwagen nach Hause mitnehmen.

Wenn große Wäsche im Haus war, standen die Mägde schon in der Nacht auf. Als meine Mutter 10 Jahre war, wollte sie waschen lernen. Obgleich man sie auslachte, stand sie nachts mit auf und ging mit an die Arbeit. Weil sie sich noch nicht darauf verstand, rieb sie sich die Finger wund, und die beißende Seifenlauge verursachte heftige Schmerzen; aber sie biß die Zähne zusammen und hielt aus, und das nächste Mal war sie wieder mit dabei.

Wenn neue Angestellte (oft männliche Verwandte) im Geschäft anzulernen waren, wurden sie meiner Mutter anvertraut. In dem arbeits- und kinderreichen Hause ging es sehr fröhlich zu. Es wurde

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/24&oldid=- (Version vom 31.7.2018)