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sie zu beschaffen, zu verpacken und auf den Weg zu bringen. Ich war aber froh, wenn ich etwas für ihn tun konnte. Pauline Reinach wunderte sich, daß es Nelli recht war, so ausgeschaltet zu werden. Aber ich war überzeugt, daß sie mir nur dankbar für die Entlastung war. Sie war ja so sehr unpraktisch und machte alles so umständlich, daß ihr diese Dinge alle viel mehr Zeit genommen hätten als mir.

Der nächste Weg von der Schillerstraße zur Stadt führte über den Albanikirchhof und am Feuerteich vorbei. Als ich einige Tage nach meiner Ankunft auf dem Heimweg an den Teich kam, ging eine Dame vor mir her, deren grüner Mantel mir bekannt war. Sie war eben in den Hainholzweg eingebogen (entgegengesetzt zu der Richtung, die ich einschlagen mußte) – da drehte sie sich um, und als sie mich erblickte, blieb sie stehen, um auf mich zu warten. Es war Erika Gothe. Außer uns beiden war niemand von dem engeren Husserlkreis nach Göttingen zurückgekehrt. So war es selbstverständlich, daß wir uns aneinander anschlossen. Sie ging eben zu ihrem Mittagtisch bei Frau Gronerweg am Hainholzweg. Ich hatte an diesem Tage schon gegessen, aber von nun an sollte ich doch auch hinkommen. Pauline Reinach war ganz in Pension bei Gronerweg. Die Wohnung am Steingraben war abgeschlossen, Frau Reinach war bei ihrer Mutter in Stuttgart. Bald war ich in diesem Haus am Hainholzweg ebenso heimisch wie in der Schillerstraße. Ich ging nur mittags hin, abends sorgte ich wie früher für mich selbst. Regelmäßig einmal in der Woche kam ein Päckchen von zu Hause. Wenn meine Mutter Freitag früh die Striezel für den Sabbat auf die vorgeschriebene Weise flocht, da machte sie auch einen kleinen für mich (ebenso für die Hamburger Kinder und Enkel je einen), und mittag wurden sie frisch gebacken zur Post gebracht; dazu kam als Beilage eine Gänseleber oder ein Stück vom Sonntagsbraten.

Frau Gronerweg war eine ältere Dame, etwas verkümmert und verbittert, weil sie früher bessere Tage gesehen hatte und es jetzt sehr schwer hatte. Ihr Mann lebte noch, aber er hatte vor Jahren einen Schlaganfall gehabt, konnte sich nur mühsam bewegen und schwer sprechen, war auch geistig nicht mehr normal. Er aß mit am allgemeinen Tisch, und das war eine starke Zumutung für die fremden Gäste. Aber es war uns noch leichter, den Anblick des alten Mannes zu ertragen als die Gemütsverfassung der vergrämten Frau, die durch seine Unbeholfenheit offenbar beständig gereizt wurde und das mühsam unter tadellosen gesellschaftlichen Formen zu verbergen suchte. Außer Pauline gab es noch eine Vollpensionärin: Liane Weigelt. Sie war mir ein wenig bekannt aus Husserls Seminar und der Philosophischen Gesellschaft. Sie war aber dort nur zu sehen,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/240&oldid=- (Version vom 2.8.2019)