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und nicht zu hören gewesen. Sie hatte sich von dem Philosophen Heinrich Maier das Thema zu einer philosophischen Arbeit geben lassen, die Philosophie lag ihr aber offenbar gar nicht. Für ihr anderes Fach, Kunstgeschichte, brachte sie sicher mehr Begabung mit. Aber im Grunde war sie wohl überhaupt nicht zum Studium geschaffen. Sie verstand es, ein Heim behaglich zu machen – das sah man an ihrer Studentenwohnung im romantischen Gartenhäuschen des Gronerwegschen Grundstücks – andere zu verwöhnen und sich verwöhnen zu lassen. Leider hatte sie weder Eltern noch Geschwister und stand eigentlich ganz allein auf der Welt. Ihre freundschaftlichen Beziehungen mußten daher für sie sehr viel mehr bedeuten als für den andern Teil und brachten ihr manche Enttäuschung. Pauline Reinach nahm sich liebevoll um sie an. Paulines Arbeitszimmer wurde überhaupt für uns ein Mittelpunkt. Nach dem Mittagessen fanden wir uns gewöhnlich noch für eine Weile dort zusammen: Erika, Liane und ich. Sogar der Fortmeister, der noch zu unserer Tafelrunde gehörte, kam manchmal dazu. Er hatte als Landwehrhauptmann in Göttingen Rekruten auszubilden und war für diese Zeit bei Frau Gronerweg untergebracht. Er war ein älterer, verheirateter Mann, fühlte sich aber sehr wohl in unserer Gesellschaft. Es gab damals immer so viel, worüber man sich aussprechen mußte: die Kriegsereignisse, die Nachrichten aus dem Feld, die Studienangelegenheiten. Wie glücklich waren wir, wenn eine Feldpostkarte oder gar ein Brief von Reinach kam! Er stand in der Gegend von Verdun. Einmal schickte er in einem Brief für jede von uns ein Schneeglöckchen mit. Er hatte sie selbst gepflückt, sie kamen ganz frisch an. Erika und ich verschafften uns auch die Feldadressen unserer Studiengefährten und begannen sie mit Feldpostpaketen zu versorgen. Dafür kamen dann Briefe zurück: von Hering, von Lipps, von Kaufmann. Der Herbst brachte auch die ersten Verluste in unserm Kreis: Fritz Frankfurther und Rudolf Clemens. Frankfurthers Mutter lebte in Breslau, bei Kriegsbeginn ging auch ihre Tochter Magda Frei zu ihr. Sie war Ärztin und mit einem Arzt in Göttingen verheiratet, ihr Mann war aber jetzt auch im Feld. Nach dem Krieg siedelten Freis ganz nach Breslau über. Tony Meyer war mit Frau Frankfurther und Frau Dr. Frei befreundet und veranlaßte mich, sie zu besuchen, als ich wieder nach Breslau kam. Die beiden konnten sich jahrelang über den Verlust des einzigen Sohnes und Bruders nicht trösten. Es war ihnen von großer Bedeutung, daß ich zu ihnen kam und daß sie durch mich Fühlung mit dem Kreis behielten, in dem ihr Fritz so glücklich gewesen war. Ich bekam sein Kriegstagebuch zu lesen und seinen ganzen literarischen Nachlaß durchzusehen. Gar zu gern hätten sie seine hinterlassenen

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/241&oldid=- (Version vom 31.7.2018)