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Arbeiten veröffentlicht gesehen, aber ich konnte das nicht durchsetzen.

Auch Erikas Bruder Hans Gothe war im Feld. Er und der jüngere Bruder Georg stammten aus ihres Vaters zweiter Ehe, ihre Schwester Lene und sie selbst aus der ersten. Nun war auch der Vater längst tot, aber die zweite Mutter war für Erika eine wirkliche Mutter, und auch das Verhältnis zu den Brüdern war ein sehr inniges. Ich habe Frau Gothe und ihr Haus in Schwerin nie gesehen, aber durch Erikas Erzählungen wurde ich mit beiden ganz vertraut. Sie war eine tiefgläubige Protestantin, und von der warmen Güte ihres Wesens strahlte etwas bis zu uns herüber.

Trotz der lastenden Kriegssorgen ist wohl dieser Winter die glücklichste Zeit während meiner Göttinger Studienjahre gewesen. Die Freundschaft mit Pauline und Erika war tiefer und schöner als die alten Studienfreundschaften. Es war zum ersten Mal, daß nicht ich der führende und umworbene Teil war, sondern daß ich in den andern etwas Besseres und Höheres sah als ich selbst war.

Die Arbeit mit meinen beiden Lehrkameradinnen ging weiter. Wenn Fräulein Scharf und ich jetzt in meinem gemütlichen Arbeitszimmer abends zusammensaßen, strickten wir eifrig Strümpfe und andere warme Sachen für die Feldgrauen. Ich hatte es als Schulkind im Handarbeitsunterricht nicht sehr weit in dieser Kunst gebracht und sie seither längst vergessen. Jetzt lernte ich sie neu bei meiner geschickten Gefährtin, und die Nadeln klapperten geschäftig, während wir unser Geschichtspensum durchsprachen und einprägten.

An bestimmten Abenden arbeitete ich mit Erika zusammen Philosophie. Für die letzte Wiederholung erhielt ich von ihr drei Blätter, auf denen Hering einen Abriß der Geschichte der Philosophie aufgezeichnet hatte. Er selbst und Frankfurther hatten ihn schon fürs Staatsexamen benützt, und nun vererbte er sich weiter. Als Letztes war darauf das Zeitalter der Phänomenologie vermerkt; dabei stand: Ende aller übrigen Philosophie. Pauline hatte eine Arbeitsverabredung zwischen Liane und mir vermittelt, und sie selbst las manchmal mit mir Homer. Wenn zwei von Frau Gronerwegs Abendgästen außerhalb eingeladen waren, dann lud ich die dritte zu mir ein, damit sie nicht mit der alten Dame allein sein müßte. Ich kaufte dann reichlicher als sonst zum Essen ein und schmückte das runde Eßtischchen, so schön ich konnte. Es war alles dazu im Hause, und Nelli freute sich, wenn ich ihre Sachen benützte. Der Leinenschrank im Schlafzimmer war übervoll von schöner Wäsche; und wenn ich eine nette Obstschale oder einen silbernen Kuchenkorb herbeiwünschte, so brauchte ich nur ins Eßzimmer

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/242&oldid=- (Version vom 31.7.2018)