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zwischen den Gräbern ein Offizier, wohl auf dem Wege zur nahen Kaserne. Er war ganz verdutzt, als er mich bemerkte. „Na, Sie haben aber Courage!“ sagte er im Vorübergehen.

Im November hatte ich meine Arbeiten abgeliefert und um einen möglichst frühen Termin für die mündliche Prüfung gebeten. Sie wurde auf den 14./15. Januar festgesetzt. Nur die nächsten Freundinnen in Göttingen wurden davon unterrichtet; nach Hause schrieb ich nichts davon; es sollten möglichst wenig Leute in Aufregung versetzt werden. Über Weihnachten wollte ich in Göttingen bleiben. Alle andern fuhren natürlich nach Hause; Liane, die kein Zuhause hatte, wenigstens zu Bekannten. Ehe sie abreisten, hörte ich eines Abends viele Füße die Treppe heraufkommen: Pauline, Erika und Liane brachten mir ein reizend geschmücktes Weihnachtsbäumchen. Das sollte mich trösten, wenn ich allein den Heiligen Abend feierte.

Vor der Prüfung mußte ich den Examinatoren Besuch machen. Am wenigsten bekannt war ich noch mit dem Literaturhistoriker Weißenfels. Da Edward Schröder, sein gewaltiger Kollege, als Hauptmann im Feld war, hatte er jetzt das germanistische Oberseminar und war stellvertretender Direktor. Er hatte mich zu Beginn des Semesters mit Freuden aufgenommen, ohne eine Zulassungsarbeit zu verlangen. Er versicherte mir, daß er mich von seinen Übungen über „Faust“ aus dem vorhergehenden Semester gut kenne und wisse, daß ich etwas könne. Diesmal hielt er Übungen über Heinrich von Kleist. In den ersten Wochen ging ich hin. Da ich es aber langweilig und nutzlos fand, sagte ich ihm dann, er würde wohl verstehen, daß ich so dicht vor der Prüfung notwendig zu Hause arbeiten müsse, und bat, mich von der Teilnahme zu befreien. Kurz vor meinem Besuch sagte mir jemand, wenn man die Prüfung in Deutsch für Oberstufe machen wolle und keine Staatsarbeit aus diesem Fach gemacht habe, müsse man eine Klausurarbeit schreiben. Ich fragte Weißenfels, als ich bei ihm war – seine Villa lag unmittelbar neben der Husserlschen am Hohen Weg – ob das stimme. Ja, sagte er, aber das sei nichts Gefährliches; man brauchte nur in 3 Stunden einen kleinen Aufsatz zu schreiben. In drei Stunden, meinte ich, könne man doch nichts Rechtes zustande bringen. Es werde auch nichts Großes erwartet, war die Antwort. Es handle sich nur darum, den Stil kennenzulernen. Das, fand ich, könnten wir leichter haben. Ich machte ihm den Vorschlag, doch eine meiner beiden großen Arbeiten zu lesen. Er fand dies ganz praktisch und war sofort bereit, darauf einzugehen. Er erkundigte sich nach den Themen. Ich nannte sie ihm und empfahl ihm die geschichtliche Arbeit, da die philosophische ja doch für Nicht-Phänomenologen schwer zugänglich sei. Er interessierte sich aber gerade für dieses Thema und versprach, sie

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/244&oldid=- (Version vom 31.7.2018)