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Am Morgen des ersten Prüfungstages vertraute ich Frau Hartung meine Sorgen an. Sie ließ sich wieder breit und schwer auf die Chaiselongue nieder und sprach mir Mut zu. Durch ihre Arbeit kannte sie fast die ganze Fakultät; bei Frau Weißenfels war sie regelmäßig beschäftigt. „Weißenfels läßt Ihnen nicht durchfallen“, versicherte sie mit der größten Bestimmtheit. „Und bei Husserl ist es ja sowieso ausgeschlossen, daß es Ihnen schlecht geht“.

Die Prüfung war im Humanistischen Gymnasium, Gymnasialdirektor Miller war der sehr gefürchtete Vorsitzende der Prüfungskommission. An diesem Tage bekam ich ihn noch nicht zu sehen. Ich wurde ganz allein geprüft, aber zur gleichen Zeit kamen andere Kandidaten in andern Klassenräumen in ihren Fächern an die Reihe. Wir warteten zusammen in einem dafür bestimmten Zimmer. Um 5 Uhr kam Weißenfels mich selbst abholen. Es hätte noch ein anderes Mitglied der Prüfungskommission als Beisitzender zugegen sein sollen; da niemand kam, blieben wir allein. Er holte ein kleines Büchlein hervor: den mittelhochdeutschen Text. Was mochte es wohl sein? „Meier Helmbrecht“ – ich mußte mich beherrschen, um meine Freude nicht zu verraten. Ich las und übersetzte fließend und konnte auch alle grammatischen Fragen beantworten. Nun begann ein Spaziergang durch die deutsche Literatur. Ich sollte angeben, was aus den mittelhochdeutschen Epen später geworden sei; das gab Gelegenheit, über die Volksbücher zu sprechen. So kamen wir auf das Faustthema und seine verschiedenen Behandlungen. Als ich über Lessings Faustfragment etwas sagen wollte, unterbrach mich Weißenfels. „Sie haben allerdings Lessing als Spezialgebiet angegeben, aber ich möchte doch jetzt lieber noch einige Fragen über die Romantik stellen“. „Bitte!“ sagte ich ruhig und ergeben. Nachdem ich auch diese Fragen noch beantwortet hatte, war die Stunde herum. Der freundliche Examinator wünschte mir Glück und sagte, er freue sich, daß ich die Prüfung so gut begonnen hätte.

Freitag von 11-12 war die Philosophieprüfung angesetzt. Diesmal war Direktor Miller Beisitzer. Ich wußte, daß Husserl das sehr unangenehm war, er mußte den Vorwurf fürchten, daß er seine Schüler zu milde behandle, und prüfte darum scharf. Eine ganze Stunde lang stellte er Fragen über Geschichte der Philosophie. Ich hatte sehr viel Plato gelesen, aber nun fragte er gerade nach dem „Timaeus“, den ich nur aus Darstellungen kannte; das wagte ich jedoch nicht zu sagen, um meinen guten Meister nicht vor dem gestrengen Vorsitzenden zu blamieren, sondern begann kühn den Gedankengang des Dialogs zu konstruieren, indem ich die gestellten Fragen als Anhaltspunkte benützte. Ebenso machte ich es, als ich über die verschiedene Stellungnahme David Humes zur Mathematik

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/246&oldid=- (Version vom 31.7.2018)