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gescherzt, gelacht und gesungen. Besonders, wenn die studierenden Brüder und Vettern zu den Ferien nach Hause kamen, und bei den großen Familienfesten, Geburtstagen und Hochzeiten, war bewegtes, lustiges Leben. Meine Mutter hat als Kind etwas Klavierspielen gelernt; später war keine Zeit mehr dazu, aber ein paar Takte des Straußschen Walzers „Wein, Weib, Gesang“ kann sie noch heute auswendig spielen. An ihrem 70. Geburtstag hat sie noch mit ihrem ältesten Enkelsohn, und das Jahr darauf bei der Hochzeit meiner Schwester Erna mit dem Bräutigam Walzer getanzt.

Als meine Mutter meinen Vater kennen lernte, war sie 9 Jahre alt. Aus dieser Zeit stammt auch der älteste Brief von ihm. Er und seine Schwestern haben die briefliche Verbindung aufrecht erhalten. In den Briefen der späteren Jahre tauchen allmählich Anspielungen auf, die zeigen, wie sehr sie eine Verlobung wünschten. Die Familie meines Vaters hat auch nach seinem Tode stets eine große Verehrung und Anhänglichkeit für meine Mutter bewahrt. Sie war 21 Jahre, als sie heiratete. Mein Vater war damals in der Holzhandlung S. Steins Witwe in Gleiwitz tätig. Inhaberin der Firma war meine Großmutter Johanna Stein geb. Cohn. Sie war eine ebenso strenge wie zärtliche Mutter. Keins ihrer Kinder wagte ihr zu widersprechen, selbst wenn sie offenkundig irrte. Meine Mutter wurde von ihr sehr geschätzt und durfte es am ehesten wagen, einmal eine abweichende Überzeugung zu äußern. So nahm sie sich um ihren jungen Schwager Leo an, als er der Mutter die „Schande“ antun wollte, Schauspieler zu werden. Sie nahm ihn bei sich auf, als seine Mutter ihn nicht mehr im Hause dulden wollte; und da sie ihn nachts aufstehen und seine Rollen deklamieren hörte, überzeugte sie sich von der Echtheit seines Berufs und suchte zwischen ihm und der Großmutter zu vermitteln. (Er ist später als Lustspieldichter und Bühnenleiter unter dem Namen Leo Walter Stein bekannt geworden... Einige seiner Bühnenwerke – „Die Ballerina des Königs“, „Liselotte von der Pfalz“ – sind sogar ihres nationalen Gehalts wegen für würdig befunden worden, auf den deutschen Bühnen des dritten Reichs aufgeführt zu werden). Meine Großmutter war keine Geschäftsfrau, wie es meine Mutter war. Sie verließ sich auf einen Geschäftsführer, der sie betrog, und ließ sich durch niemanden überzeugen, daß er ihr Vertrauen nicht verdiente. Das bewog meine Eltern schließlich, die geschäftliche Verbindung zu lösen und Gleiwitz zu verlassen. Sie gingen in die Heimat meiner Mutter, um mit der Unterstützung ihrer Eltern ein eigenes Geschäft zu beginnen.

Es war schon eine sechsköpfige Familie, die nach Lublinitz

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)