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Die gebrauchte Wäsche kam sofort in große Bütten mit Lysollösung. Man war stolz darauf, daß sehr selten eine Hausinfektion vorkam. Und von der Oberschwester sagte man, wenn sie sich anstecken würde, dann würde sie nicht am Typhus, sondern an der Scham sterben. Denn die Typhusbazillen werden nicht durch den Atem, sondern nur durch die Ausscheidungen der Kranken übertragen. Es ist zwar bei der Pflege nicht zu vermeiden, damit in Berührung zu kommen. Aber wenn man sich sofort wäscht, kann man sich schützen; Ansteckung ist also ein Zeichen mangelnder Sauberkeit.

Die zweite Helferin, Steffi, war eine kleine Polin, zart und blond und traurig. Es waren mehrere Polinnen im Lazarett, Flüchtlinge aus dem galizischen Kriegsgebiet oder „Soldaten“ aus der polnischen Legion. So war im Nachbarsaal ein kleiner weiblicher Korporal. Sie war verwundet und danach zum Lazarettdienst bestimmt worden, obgleich sie keine Ausbildung in Krankenpflege hatte. Auch Steffi war eine ungeschulte Hilfskraft. Dem gegenüber hatte ich manches voraus. Aber immerhin: unser Kursus hatte nur einen Monat gedauert, dann hatte ich noch sechs Wochen praktisch gearbeitet. Und das lag nun schon ein halbes Jahr zurück. Einen Typhuspatienten hatte ich noch nie gesehen; ich kannte nur aus unserm Lehrbuch Ursachen, Anzeichen und Verlauf der Krankheit. Natürlich mußte ich mich erst einarbeiten und habe mir wohl manches Stückchen geleistet. In Erinnerung ist mir nur eines. Ich sah im Vorbeigehen einen Kranken, dem vor Frost die Zähne aufeinanderschlugen. Schnell füllte ich eine Bettflasche mit heißem Wasser und legte sie ihm an die Füße. Da mußte selbst der Patient lächeln: er lag nämlich in einer kalten Packung.

Schwester Loni führte mich nach meiner Ankunft im ganzen Saal herum, zeigte mir alle Einrichtungen und sagte mir Bescheid über die Kranken. Vor allem machte sie mich auf den damals schwersten Patienten aufmerksam. Es war ein junger italienischer Kaufmann aus Triest. Man nannte ihn nur mit dem Vornamen; der Name will mir nicht mehr einfallen, ich will ihn Mario nennen. Die Krankheit war bei ihm mit ungewöhnlicher Heftigkeit aufgetreten. Sein Mund war beständig mit einem oft mit Blut untermischten Schleim gefüllt. Schwester Loni wies mich an, ihm jedesmal, wenn ich vorbeikäme, mit einem Läppchen den Mund zu reinigen. Für diesen Liebesdienst dankte er immer mit einem Blick. Sprechen konnte er überhaupt nicht; er hatte die Stimme ganz verloren. Bei jeder Visite wurde er gründlich untersucht. Arzt und Schwestern sprachen dann an seinem Bett von ihm, als ob er nichts verstünde. Aber ich sah es seinen großen, glänzenden Augen an, daß er bei völlig klarer Besinnung war und gespannt auf jedes Wort hörte.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/255&oldid=- (Version vom 31.7.2018)