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Meist lag er ganz still da, folgte uns aber mit den Blicken. Die andern Fieberkranken waren fast alle schwer benommen und merkten nichts von dem, was um sie herum vorging. Man besorgte sie wie kleine Kinder und war erstaunt, wenn sie nach Wochen zu sich kamen und sich wie richtige Menschen benahmen. Bei manchen war der Typhus schon im Abklingen, aber sie hatten noch an Begleiterscheinungen zu leiden. Lungen- und Rippenfellentzündungen waren häufig auftretende Komplikationen und forderten mehr Opfer als der Typhus selbst. Einige hatten aus dem Karpathenwinter erfrorene Füße mitgebracht und mußten daraufhin behandelt werden.

Während wir unsern Rundgang durch den Saal machten, kam der Arzt zur Visite und wurde mir vorgestellt. Er war noch recht jung, klein und untersetzt, hellblond und rosig. Nach einigen freundlichen Worten erklärte er: „Die Schwester wird von der Reise ermüdet sein. Wir wollen sie für heute eliminieren“.

Indessen war in einem andern Saal ein Fall von Flecktyphus festgestellt worden. Das galt als etwas sehr Schlimmes. Der Verlauf war meist tödlich und die Ansteckungsgefahr groß; man konnte sich auch kaum davor schützen, weil der Erreger noch nicht entdeckt war. Schwester Oberin gab die Weisung, daß die Schwestern der Typhusstation möglichst wenig mit andern zusammenkommen und alle in der großen Reitschule schlafen sollten. So mußte ich mein Gepäck schon wieder aus dem großen Schlafsaal wegholen, wo ich es vor einigen Stunden hingebracht hatte. Ich fand in dem weitläufigen Gebäudekomplex nur mühsam den Weg. Es war mir aber sehr recht, daß ich nicht dort zu schlafen brauchte und früh nicht über lange Gänge und mehrere Treppen hinauf- und heruntergehen mußte, um an meine Arbeitsstätte zu gelangen. Das Schlafzimmer in der Reitschule teilte ich mit drei andern: unserer Schwester Emma, Schwester Sophie vom III. Saal und ihrer Helferin Marga. Diese beiden waren ein Herz und eine Seele, obgleich Marga erst 18 Jahre und ihre Vorgesetzte wohl fast zehn Jahre älter war. Das junge Kind schien mir in dieser Umgebung recht gefährdet. Schwester Sophie war – wie die meisten von der „B.O.“ – tüchtig in ihrem Beruf und sorgfältig in der Arbeit; aber Kopf und Herz waren angefüllt von Liebeskummer – natürlich der Stationsarzt – und davon handelten die Gespräche hier im Zimmer. Ich verschloß meine Ohren, so gut ich konnte, und in der dienstfreien Zeit, die ich im Zimmer verbringen mußte, saß ich auf meinem Bett, als ob das ein abgesonderter Raum sei; dort las und schrieb ich meine Briefe und erledigte, was ich sonst zu tun hatte.

Die Mahlzeiten nahmen wir trotz der Schließung unserer Station

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/256&oldid=- (Version vom 31.7.2018)