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einem Kollegen, auf Lateinisch verständigen konnte. Freilich war es ein recht barbarisches Latein, das die Mediziner radebrechten.

Bei weitem am liebsten war mir der Verkehr mit den Patienten, wenn er auch manche Schwierigkeiten bot. Es waren ja in unserem Lazarett alle Nationen der österreichisch-ungarischen Monarchie vertreten: Deutsche, Tschechen, Slowaken, Slovenen, Polen, Ruthenen, Ungarn, Rumänen, Italiener. Auch Zigeuner waren nicht selten. Dazu kam noch manchmal ein Russe oder Türke. Zur Verständigung des Arztes mit den Kranken gab es ein Büchlein, das die notwendigsten täglichen Fragen und Antworten in neun Sprachen enthielt. Damit machte auch ich mich vertraut. Als ich einmal gerade auf dem Weg zu unserer kleinen Teeküche war, hörte ich Dr. Pick in ziemlicher Entfernung an einem Krankenbett zu Schwester Emma sagen: „Passen Sie auf, sie weiß es bestimmt!“ Dann rief er mir über den ganzen Saal hinweg zu: „Schwester Edith, was heißt ,schwitzen’ auf Ungarisch?“. Ich rief ihm die fehlende Vokabel zurück, ohne mich aufzuhalten. Mit diesen paar Brocken und mit Zeichensprache half man sich durch. Es hätte wohl noch mehr Schwierigkeiten gemacht, wenn die Leute Bedürfnis nach Unterhaltung gehabt hätten. Aber die meisten waren ja in einem Zustand, in dem das gar nicht in Betracht kam. Ihre völlige Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit machte mir die Arbeit besonders lieb. Sehr bald lernte man die Unterschiede der Nationen kennen. Wir hatten keinen einzigen Reichsdeutschen auf der Station. Später habe ich einige als Patienten gehabt. Wir deutschen Schwestern jubelten, wenn wir einen Landsmann bei einem Transport entdeckten. Hatten wir ihn aber ein paar Tage in unserm Krankenzimmer, dann wurden wir meist recht kleinlaut. Sie waren anspruchsvoll und kritisch, unsere Landsleute, und konnten einen ganzen Saal in Aufruhr bringen, wenn ihnen etwas nicht paßte. Die „wilden Völkerschaften“ waren demütig und dankbar. Sie taten mir so leid, die armen Slowaken und Ruthenen, die man aus ihren friedlichen Dörfern herausgerissen und ins Feld geschickt hatte. Was wußten sie von den Geschicken des Deutschen Reiches und der Habsburger-Monarchie? Nun lagen sie da und litten, ohne zu wissen, wofür.

Die Ungarn, wegen ihrer Tapferkeit im Felde viel gerühmt und uns gegenüber ritterlich-liebenswürdig, waren die wehleidigsten Patienten. Wenn ein Neuangekommener beim ersten Verbandwechsel im Operationssaal laut jammerte, rief man ihm zu: „Nem sabot, Magyar!“ (Es ist nicht erlaubt, Magyar). Dann verstummte das Wehgeschrei für einige Augenblicke. Man hatte sich in der Nationalität nicht getäuscht. Die Tschechen, die wegen ihres „Verrates“ an der deutschen Sache so verhaßt waren, lernten wir als die

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/258&oldid=- (Version vom 31.7.2018)