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übersiedelte[1]. Meine Mutter hat 11 Kinder geboren, von denen 4 im Kindesalter starben. Zu den traurigen Erinnerungen, von denen meine Mutter immer wieder sprach, gehörte eine Scharlachepidemie in Gleiwitz. (Solche Epidemien sind in Oberschlesien häufig). Die kleine Hedwig, ein besonders liebes Kind, das schon anfing, der Mutter etwas zu helfen, starb daran. Mein ältester Bruder Paul überstand die Krankheit, aber meine Mutter meint, daß er seitdem verändert war. Er war ein bildschönes, hochbegabtes und lebhaftes Kind. Später wurde er ein stiller, schüchterner, verschlossener Mensch, der sich und seine Gaben nie zur Geltung zu bringen vermochte.

Die Jahre in Lublinitz waren ein beständiger Kampf mit wirtschaftlicher Not. Für meine stolze Mutter ist es sicher eine harte Demütigung gewesen, daß sie immer wieder die Hilfe ihrer Eltern in Anspruch nehmen mußte. Auch ein Kind, an dem sie mit besonderer Liebe hing, den kleinen Ernst, hat sie hier wieder hergeben müssen. (Die andern beiden Kinder, die ihr starben, waren so klein, daß der Schmerz des Verlustes noch nicht so groß war wie bei den schon etwas herangewachsenen).

Meine Eltern wohnten in der sogenannten „Villa“, einem netten kleinen Haus mit großem Garten, das den Großeltern gehörte. Es machte meiner Mutter große Freude, selbst Gemüse und Obst zu bauen, und sie hatte dabei eine glückliche Hand. Sie hat damals eine Reihe von Apfelbäumchen gepflanzt, hat aber nicht mehr selbst die Früchte ernten können. Haus und Garten gingen später in den Besitz einer befreundeten Familie über. Als Feriengäste durften wir darin spielen und uns soviel Äpfel holen, wie wir wollten. Meine Mutter erzählte oft eine nette kleine Geschichte aus jener Zeit. Eine meiner Cousinen, damals ein Kind von etwa 3 oder 4 Jahren, besuchte sie, als gerade die Gurken reif waren. Sie schenkte ihr ein paar und legte sie ihr in die Schürze. Das Kind lief voller Freude nach Hause, hielt die Schürzenzipfel fest und rief schon von weitem aufgeregt: „Die Tante Gustel läßt die Gurken wachsen“. Dann breitete sie die Schürze aus und blieb entsetzt stehen: sie hatte alle Gurken unterwegs verloren.

Bis heute macht es meiner Mutter die größte Freude, selbst zu säen und zu ernten und von der Ernte reichlich andern zu schenken. Sie hält dabei an der alten jüdischen Sitte fest, daß man die ersten Früchte von jeder Sorte nicht selbst ißt, sondern verschenkt. (Allerdings


  1. Wir lesen im Manuskript in Bleistift verbessert, wahrscheinlich von Rosa Steins Hand oder unter ihrem Einfluß: „Es war schon eine fünfköpfige Familie, die ...“
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/26&oldid=- (Version vom 31.7.2018)