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auf. Aber die Polen und Tschechen unter ihnen übten passiven Widerstand, indem sie sich stellten, als ob sie die deutschen Befehle nicht verstehen. Wenn man seinen Saal gekehrt haben wollte, mußte man so einen Mann bei den Schultern packen und ihm einen Besen in die Hand drücken. Dann bequemte er sich wohl, die Arbeit anzufangen. Aber wenn man den Rücken drehte, mußte man darauf gefaßt sein, daß der Besen bald wieder in der Ecke stand. Wir hätten die faulen Leute dem Oberleutnant anzeigen sollen. Aber die Österreicher hatten so abscheuliche Strafen – Anbinden oder gar Prügel. Dem wollte man doch niemanden aussetzen.

Als ich zwei Wochen auf der Typhusstation war, bekam ich Nachtdienst. Wir hielten ihn abwechselnd in unserm Saal. Dann kam man 14 Tage lang nur nachts auf die Station – von abends 7 bis früh um 7 – und hatte den Tag zum Ausruhen. Um 9 Uhr früh gab es für die Nachtwachen Mittagessen, dann sollten sie bis etwa 6 Uhr abends schlafen, um 17 ihr Nachtessen nehmen und dann auf die Station gehen. Für die Nacht bekamen sie ein Kännchen Kaffee, ein dickes doppeltes Butterbrot und ein Ei mit. Es gab für sie einen eigenen Schlafsaal; in den siedelte auch ich jetzt über. Wenn man gute Freundinnen hatte, die einem für das Mittagessen sorgten, konnte man es sich zur gewöhnlichen Stunde holen und ans Bett bringen lassen. Dann brauchte man nicht schon um 9 Uhr zur Stelle sein, sondern konnte etwas länger im Freien bleiben. Denn nach Licht, Luft und Sonne hatte man noch mehr Verlangen als nach Schlaf.

Als ich am ersten Abend mit meinem Kaffeekännchen zur Reitschule ging, begegnete mir Dr. Pick mit einem Kollegen. Er wünschte mir Glück für die Nacht und sagte zu dem andern: „Seit zwei Wochen ist sie da und übernimmt schon die Verantwortung für 60 Typhuspatienten“. Es erwartete mich aber noch mehr. Die Oberschwester ließ mich rufen und fragte mich, ob ich Spritzen geben könne. Ich hatte es gelernt, wenn auch noch nicht oft getan. Sie bat mich, auf den II. Saal etwas mit achtzugeben; die Polin, die dort Nachtdienst hätte (der kleine Korporal!), verstünde sich nicht auf Spritzen. Auch in den III. Saal sollte ich manchmal sehen, denn dort sei nur eine Wärterin. Schließlich übergab sie mir noch das kleine Absonderungszimmer: dorthin war ein Patient aus unserm Saal verlegt worden, weil bei ihm Diphterie festgestellt war. Es war ein Zigeuner, der uns schon viel Sorge gemacht hatte, weil er jede Nahrungsaufnahme verweigerte. Er war erschreckend abgemagert, und sein braunes Gesicht war erdfahl geworden. Die Diphterie hat ihm den Rest gegeben. Er starb aber nicht während meiner Nachtwache. Dagegen holte mich die kleine Polin voller Angst

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/260&oldid=- (Version vom 31.7.2018)