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recht kräftige Stimme – und konnte mit Appetit essen, schließlich auch aufstehen. Als er so weit war, wurde er in eine Baracke verlegt, zusammen mit seinem Freund, einem andern jungen Kaufmann aus Triest. Bei diesem war die Krankheit von Anfang an nur leicht aufgetreten. Er war Sanitäter, ein sehr freundlicher und gutmütiger Mensch; er hatte sich gern nützlich gemacht, indem er gewaschene Mullbinden kunstgerecht wickelte und andere kleine Dienste für uns verrichtete. Die beiden jungen Burschen besuchten uns öfters von ihrer Baracke, sie wurden zusehends kräftiger, und der romantische Mario entpuppte sich schließlich als ein rechter Lausbub.

Einige Nächte machte mir ein schwer delirierender Patient viel zu schaffen. Er war auch schon ohne klares Bewußtsein eingeliefert worden, schien zwar gutherzig zu sein, aber von Angstbildern geplagt. Wenn ich zu ihm kam, klammerte er sich an meinen weißen Mantel und rief: „Schwester, helfen Sie mir, helfen Sie mir!“ In einer Nacht wollte er beständig davonlaufen. Es blieb mir nichts übrig als ihn festzubinden. Ich spannte ein Leintuch über das ganze Bett und knüpfte die Zipfel an den Bettpfosten fest. Der unruhige Kranke guckte nur noch mit dem Kopf heraus, war aber sonst gefangen. Allerdings, wenn er eine Zeitlang gearbeitet hatte – es war ein starker Mann – dann lockerten sich die Knoten, und ich mußte die Arbeit von neuem beginnen. Dabei überraschte mich einmal der Arzt, der in dieser Nacht Dienst hatte und nachsehen wollte, was auf der Station los sei. Es war ein friedlicher Landarzt, der wohl noch nie einen Typhusfall gesehen hatte. Er entsetzte sich, daß ich allein im Saal und bei diesem schwer zu bändigenden Kranken sei. Als er sah, daß ich das Bett sauber machte, rief er erschrocken: „Schwester, Sie werden sich anstecken!“ Ich wies lächelnd auf unsere Sublimatschüssel hin. Um dem Kranken und mir Ruhe zu schaffen, gab er ihm schließlich eine Morphiumspritze. Die Wirkung war aber nicht ganz die erwünschte. Der Mann lag allerdings jetzt friedlich da, aber er fing an, laut zu singen, und weckte mir damit die andern auf. Sie sagten am nächsten Morgen, es sei so gemütlich gewesen, wie die Schwester am Bett saß und Wiegenlieder gesungen wurden.

Der Nachtdienst war mir besonders lieb, weil man dabei nur mit den Kranken zu tun hatte, nicht mit andern Schwestern und sonstigem Personal. Auf einer chirurgischen Station, auf der ich später arbeitete, war als Helferin eine Wiener Bildhauerin, die nur Nachtdienst tat, um sich ungehindert durch unliebsame Zusammenstöße den Verwundeten widmen zu können. Ich hielt mich an die gewöhnliche Ordnung und begnügte mich mit meinen zwei Wochen.

Natürlich atmete man auf, wenn man morgens den Saal mit der

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/263&oldid=- (Version vom 31.7.2018)