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irregeleiteten mütterlichen Fürsorge, um ihnen ein besseres Fortkommen zu sichern. Ich habe sie später als eine gütige und wohltätige Frau kennen gelernt, die für sich selbst keineswegs auf den äußeren Vorteil bedacht war. Suse hat ihrer Mutter jene Maßnahme niemals gedankt, Ihrer reinen und aufrichtigen Seele widerstrebte ein Übertritt, der nicht aus innerster Überzeugung kam. Seit sie erwachsen war, hatte sie oft darüber nachgegrübelt, ob sie den Schritt nicht rückgängig machen sollte. Aber wie konnte sie zum Judentum zurückkehren, da es ihr ganz fremd war? Außerdem war sie in der Schule protestantisch erzogen, und wenn sie auch nicht positiv-gläubig war, so hatte sie doch eine gewisse christliche Prägung mitbekommen und es war ihr manches liebgeworden. Natürlich bekamen wir im Lazarett manchmal eine antisemitische Äußerung zu hören. Suse beneidete mich förmlich darum, daß ich dann einfach mit dem Bekenntnis, ich sei Jüdin, hervortreten konnte. (Es weckte übrigens jedesmal großes Erstaunen, denn niemand hielt mich dafür). Wenn sie zu einer solchen Bemerkung schwieg, kam sie sich feige vor; und wenn sie etwas sagen wollte, mußte sie eine umständliche Erklärung abgeben, die befremdete und nicht verstanden wurde.

Über all diese Fragen sprachen wir in aller Aufrichtigkeit und Herzlichkeit miteinander. Wir nannten uns aber nicht „Du“, solange wir in Weißkirchen waren. Die plumpe Vertraulichkeit, mit der die andern Schwestern sich gegenseitig duzten, ohne innerlich etwas miteinander gemeinsam zu haben, ließ uns das „Sie“ als Zeichen gegenseitiger Achtung beibehalten. Es geschah ganz selbstverständlich; wir haben kein Wort darüber gewechselt.

Als ich einige Zeit in Weißkirchen war, erkrankte Grete Bauer und mußte zur Behandlung nach Hause gehen. Die „kleine Gemeinde“ bat mich, an ihre Stelle zu treten, damit man ihnen kein störendes Element ins Zimmer lege. Ich willigte mit großer Freude ein; ich hatte mich im Schwesternzimmer der großen Reitschule ja immer höchst unbehaglich gefühlt. In dem täglichen Zusammenleben mit den neuen Zimmergefährtinnen freundete ich mich besonders mit Schwester Alwine an.

Auf der Typhusstation nahmen indessen die schweren Fälle ab. Zweimal mußten wir noch dem Tod ein Opfer überlassen. Das eine war ein kleiner Kellner, ein gebrechlicher, lungenkranker Mensch. Er starb bei Tag und Dr. Pick und alle Schwestern standen an seinem Bett. Da rief mich ein anderer Kranker zu sich. „Schwester, wenn jetzt ich das wäre!“ flüsterte er aufgeregt. Ich redete ihm gut zu, aber ich wußte, daß auch für ihn nicht mehr viel Hoffnung war. Es war ein 20jähriger Maurer mit einer schlimmen Rippenfellentzündung.

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/265&oldid=- (Version vom 31.7.2018)