Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/266

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Er hatte schon lange gar keinen Appetit mehr und nahm von seiner Krankenkost fast nichts mehr zu sich. Einmal fragte ich ihn, ob er denn auf gar nichts Lust habe. Da äußerte er den Wunsch nach einer Orange. Gott sei Dank – die waren in der Kantine zu haben. In jenen Tagen bekam ich auch ein Feldpostpaket mit Lindt-Schokolade. Ich bot ihm davon an, und es schmeckte ihm gut. Seitdem fütterte ich ihn mit Orangen und Schokolade. Das hatte ihn wohl zutraulich gemacht. Denn vorher war er meist mißmutig und schweigsam – kein Wunder bei seinem schlimmen Zustand. Ein paar Tage nach jenem Todesfall merkten wir, daß es auch mit ihm zu Ende gehe. Als ich hörte, daß es nachts im Hause unruhig wurde, wäre ich gern hinübergegangen, um dem Armen beizustehen. Aber das sollten wir ja nicht – es hatte jemand anders Nachtdienst. Er bat, daß man Dr. Pick zu ihm rufe. Der junge Arzt kam bereitwillig, obwohl er keinen Nachtdienst hatte. Er berichtete mir am nächsten Morgen noch ganz erschüttert: „O, Schwester Edith, wenn Sie das gesehen hätten!“ Er machte mir vor, wie der junge Mensch den Kopf in beide Hände gelegt und gerufen hätte: „Nur nicht sterben, nur nicht sterben!“ Die Leiche wurde geöffnet, um die Todesursache festzustellen. Wieder sagte Dr. Pick: „Wenn Sie das gesehen hätten!“ In der Brusthöhle hatten sich dicke pleuritische Schwarten gebildet, die auf die Organe drückten. Kein Wunder, daß der Magen nichts mehr aufnehmen mochte!

Nach einiger Zeit wurde uns auch unser Arzt in ein anderes Lazarett weggeholt. Er nahm von uns allen herzlichen Abschied und schickte uns schöne Blumen für unseren Saal. Ehe er ging, übergab er sein kleines Reich seinem Freunde Dr. Flusser, der bisher schon den III. Saal hatte und nun den I. hinzunahm. „Ich mache dich besonders auf unser Stationstagebuch aufmerksam. Es ist tadellos in Ordnung, Schwester Edith hat es geführt“. Er hatte es selbst angefangen, aber die Eintragungen oft vergessen. Darum war es ihm sehr willkommen, als ich es übernahm, die Krankengeschichten einzutragen.

Dr. Flusser kannte ich bisher nur vom Sehen und vom Hörensagen; danach hatte ich keinen günstigen Eindruck. Aber in der gemeinsamen Arbeit fand ich keinen Grund zur Klage. Er war gut gegen die Patienten und ließ sich auch uns gegenüber nichts zuschulden kommen.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/266&oldid=- (Version vom 31.7.2018)