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2.

Indessen leerte sich die Typhusstation mehr und mehr. Die alten Patienten wurden geheilt entlassen, und es kamen kaum noch neue hinzu. Das war ja an sich sehr erfreulich. Ich schrieb es der Wirkung der Schutzimpfung zu, die nun wohl auch in Österreich allgemein durchgeführt war, während es anfangs daran offenbar sehr gefehlt hatte. Wir entließen von der Station keinen Soldaten zum Abtransport, ohne ihn noch einmal gegen Typhus, Cholera und Pocken geimpft zu haben. Nachdem ich Dr. Flusser ein paarmal dabei geholfen hatte, ließ er es mich gern auch selbst machen.

Für mich aber hatte die Entvölkerung unseres Saales zur Folge, daß ich nicht mehr genügend Arbeit hatte und mich unbefriedigt fühlte. Drei Monate hatte ich auf der Typhusstation gearbeitet. Eigentlich hatte ich nun Anrecht auf 15 Tage Urlaub. Man redete mir auch zu, mir jetzt eine Ausspannung zu gönnen. Aber ich fand, daß ich dafür noch nicht genug geleistet hätte. Ich hatte mir allerdings auch die Entwürfe zu meiner Doktorarbeit nachschicken lassen. Wahrscheinlich war es mein Bruder Arno, der sie mir brachte. Er hatte mich nämlich zu Pfingsten besucht. Er kam in seiner Sanitäteruniform und brachte vom Breslauer Roten Kreuz eine ganze Menge Liebesgaben für unsere Leute. Schwester Oberin stellte mir am Pfingstsonntag Wagen und Pferde des Lazaretts für einen Ausflug nach dem Helfenstein zur Verfügung. Und auch den Montag bekam ich frei, um Arno bis Olmütz zu begleiten und mit ihm diese schöne Stadt anzusehen.

So hatte ich einen dicken Stoß Manuskripte da und guckte auch manchmal hinein. Außerdem las ich öfters eine Stunde in meinem Homer. Aber dazu war ich ja nicht hergekommen. Ich beschloß, Schwester Oberin um Versetzung zu bitten. Wir luden sie für einen Abend in die kleine Gemeinde ein. Da konnte ich ihr ungestört meinen Wunsch vortragen. Sie war keinen Augenblick in Verlegenheit. „Gehen Sie zu Schwester Anni in den kleinen Operationssaal. Die barmt ja so über zuviel Arbeit!“ Solche Weisungen wurden sofort ausgeführt. Schon am nächsten Tage nahm ich von der Typhusstation Abschied. Die Schwestern waren wohl ein bißchen verwundert, daß ich es nicht aushielt, ein paar gute Tage bei ihnen zu verbringen. Ich ging von einem Bett zum andern und reichte jedem meiner Schützlinge die Hand. Manche waren traurig. Ich kam zu einem baumlangen jungen Tschechen, der noch nicht lange da war. Er war mit hohem Fieber gekommen, wir hatten noch kaum ein Wort von ihm gehört oder ein Zeichen der Teilnahme wahrgenommen. Nur daß er hungrig war und sehr darauf aus, sich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/267&oldid=- (Version vom 31.7.2018)