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bei der Hand. Schwester Margarete, die Stationsschwester, war ruhig und anspruchslos; sie kehrte nicht die Vorgesetzte heraus, allerdings hatte man an ihr auch keinen festen Rückhalt. Sie hatte ein ganzes Stockwerk unter sich: ein Offiziers- und drei Mannschaftszimmer; davon hatte ich die beiden kleineren zu besorgen, das größte war einer zweiten Helferin – Emmi – anvertraut. Emmi war ein bildhübsches Mädchen, still und zurückhaltend. Weil sie sich von den andern fernhielt, nannte man sie hochmütig und sagte dazu, sie hätte gar keinen Grund, es zu sein, denn sie sei bloß Näherin von Beruf; aber wahrscheinlich sei sie stolz darauf, eine Böhmin zu sein. Wir beiden verstanden uns bald sehr gut. Wir wechselten nicht viel Worte miteinander, halfen uns aber gegenseitig, wo wir nur konnten. Die Nachtwache hatte Schwester Else, jene Wiener Bildhauerin, von der ich früher erwähnte, daß sie nur Nachtdienst tat. Der Chef war derselbe „Pan Primarius“, den ich schon vom kleinen Operationssaal her kannte, der Stationsarzt ein junger Tscheche – gut gegen die Soldaten und nicht gerade unfreundlich gegen uns; aber er hatte die unangenehme Gewohnheit, mit den Leuten tschechisch zu sprechen, ohne uns seine Weisungen zu verdeutschen.


3.

Der August 1915, den ich auf dieser Station zubrachte, ist wohl der schwerste Monat in meiner Schwesternzeit gewesen – in ganz anderer Weise schwer als der Dienst auf Baracke 6. Ich hatte nun Menschen, wie ich es liebte. Im größeren Zimmer waren neun Betten; die Leute, die darin lagen, hatten fast alle komplizierte Oberschenkelbrüche und trugen Streckverbände. Während sie im großen Operationssaal zum Verbinden waren, mußte ich schnell ihre Betten machen, und zwar sehr sorgfältig, da sie ja so steif und fest darin lagen; wenn sie wiederkamen, mußten die Gewichte an ihrem Streckverband genau austariert werden, bis das Bein die Lage hatte, in der es am wenigsten Schmerzen machte. Jede Bewegung im Laufe des Tages machte eine Veränderung der Gewichte nötig. Abends ging ich von Bett zu Bett und rieb jeden an den Stellen, wo der Körper am festesten auflag, mit Alkohol und Puder ein, um das Wundliegen zu verhüten. Ein reichsdeutscher Unteroffizier, der uns durch seine Unzufriedenheit und Krittelei sonst viel zu schaffen machte, sagte: „Die Schwester hat mehr Arbeit mit uns als eine Mutter mit neun Kindern“. Am meisten Sorge machte mir hier ein westfälischer Bauer, Terhart, dessen steif geschientes Bein immer wieder eiterte. Er sah wachsbleich aus und hatte gar keine Lust zum

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/275&oldid=- (Version vom 31.7.2018)