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Essen. Ich fütterte ihn wie ein kleines Kind und redete ihm immer wieder zu, noch einen Löffel zu nehmen. Dabei ärgerte ich mich immer ein wenig, weil er so ganz energielos war und sich selbst gar keine Mühe gab, wieder zu Kräften zu kommen. Er hat mir später am meisten nachgetrauert und mir noch lange nach meiner Schwesternzeit aus seiner westfälischen Heimat geschrieben.

Das zweite Zimmer, das ich zu versorgen hatte, war ein ganzes Stück vom ersten entfernt. Es waren nur vier Leute darin, aber solche, die besonderer Sorgfalt bedurften.

Da ich fast den ganzen Tag auf den Füßen war, konnte ich abends kaum noch stehen. Manchmal ging ich sofort in unser Zimmer, und Alwine oder eine andere mitleidige Seele brachte mir das Nachtessen ins Zimmer, damit ich gar nicht mehr aufzustehen brauchte. Es war eine Wohltat, wenn ich ins Bett schlüpfen und die müden Füße ruhen lassen konnte. Wenigstens die Füße – denn ich selbst fand bald gar keinen Schlaf mehr. Ich saß hellwach auf dem hohen Bett und sah durch das große Fenster hinaus auf die Beczwa und den Hügelrücken, an dessen Ende der Helfenstein lag. Es war ein liebliches Bild, wenn der Mond schien. Aber ich dachte an meine Kranken und war froh, wenn der Morgen kam und ich mich überzeugen konnte, daß ihnen nichts fehlte.

Einmal bekamen wir einen frischen Transport und hatten bis zum späten Abend zu tun, bis die Neuankömmlinge richtig in ihren Streckverbänden lagen. Auch das Offizierszimmer, das bisher nur zwei Insassen gehabt hatte, wurde voll belegt. Sehr spät begegnete ich auf dem Gang noch einem sehr merkwürdigen Transport: eine hünenhafte Gestalt lag splitternackt auf dem Krankenwagen; auf der kühnen Hakennase saß ein randloser Kneifer, der Kopf ruhte auf einem rotseidenen Kissen. Es war ein polnischer Rittmeister, der aus dem Operationssaal ins Offizierszimmer gefahren wurde. Er hatte sich kein Hemd anziehen lassen, aber diese beiden Gegenstände wollte er unbedingt bei sich haben.

Als ich sehr spät und noch erschöpfter als sonst in unserm Zimmer beim Nachtessen saß, klopfte es an der Tür, und es kam die Botschaft, daß der Rittmeister eine eigene Nachtwache brauche. Emmi sollte die erste Hälfte der Nacht bei ihm wachen, ich die zweite. Ich hielt mich im Verschreibzimmerchen der Station auf und ging nur ins Offizierszimmer, wenn der Schwerverwundete – er hatte einen Rückenschuß – etwas wünschte. Das war allerdings sehr häufig der Fall. Er war hellwach und gab mit schallender Stimme seine Befehle, so daß die andern Offiziere nicht schlafen konnten und halb belustigt, halb verzweifelt waren. Einmal wünschte er Tee und Keks. Zum Glück war gerade die Kontrollnachtwache bei mir

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/276&oldid=- (Version vom 31.7.2018)