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Aber der Entschluß, fortzugehen, kam doch erst nach heftigen inneren Kämpfen zustande. Bei meinen Überlegungen spielte noch etwas anderes als die nervöse Erschöpfung eine Rolle. Es kehrte jetzt öfters der Gedanke wieder, ob es nicht unklug sei, meine wissenschaftliche Arbeit so lange zu unterbrechen, wo für die Pflege soviel andere Hilfskräfte zur Verfügung standen. Andererseits hatte ich Bedenken, ob das nicht eine egoistische Regung sei. Ich litt sehr darunter, daß Suse Mugdan gerade jetzt auf Urlaub war. Mit ihr hätte ich über meine Zweifel sprechen können. Als ich einmal mittags in unserm Zimmer war, das über einem Portal lag, hörte ich einen Wagen vorfahren und sah vom Fenster aus, wie Suse ausstieg. Ich flog die Stufen hinunter und war schon an der Haustür, bis sie mit dem Kutscher abgerechnet hatte. Ich war glücklich, sie wieder dazuhaben. Nun ging alles leichter. Ich bat Schwester Oberin, mich am 1. IX. heimgehen zu lassen. Sie war sofort bereit, wollte mich auch nicht auf zwei Wochen Urlaub festlegen, sondern es mir überlassen, ob und wann ich wiederkommen wollte. Ich bat sie, mich zu rufen, sobald sie meine Hilfe für notwendig hielt.

Das letzte Ereignis meiner Pflegezeit war der Tod des Rittmeisters. Es kam ein prachtvoller Kranz von seinen Geschwistern. Dann wurde er fortgeholt. Ich brachte noch das Zimmer in Ordnung. Danach war es Zeit zum Abschiednehmen. Ich konnte alle meine Leute reichlich mit Zigaretten beschenken, die Suse mir von daheim mitgebracht hatte. Die Ungarn und Slaven küßten mir dankbar die Hand. Auch die Mädchen nahmen mit Handkuß und ein paar Tränchen Abschied. Schwester Margarete und Emmi versprachen mir schriftliche Berichte über unsere Kranken. Frau Dr. Scharf, eine Cousine des Chirurgen, die seit einiger Zeit bei uns arbeitete, drückte mir kräftig die Hand und sagte: „Leben Sie wohl, Frau Collega von der andern Fakultät“.

Die beiden Helferinnen, mit denen ich gekommen war, fuhren gleichzeitig auf Urlaub (ich glaube, schon zum zweitenmal). Am Abend unserer Abreise stand an der großen Wandtafel im Speisesaal zu lesen: „Es gehen morgen Schwestern nach Deutschland. Wer Briefe mitzugeben hat, möge sie abliefern“. Jede von uns bekam einen dicken Stoß. Ich steckte sie sorglos in meine Handtasche und dachte nicht mehr daran. In Oderberg mußten wir zur Zollrevision. Während die Beamten mit meinen Koffern beschäftigt waren, kam ein deutscher Soldat an uns heran und fragte: „Haben Sie etwa Liebesbriefe bei sich?“ Ich reichte ihm die Handtasche hin; er nahm das ganze Paket heraus und beschlagnahmte es. Ebenso erging es den beiden andern. Ich blieb völlig ruhig. Meine Ermüdung war so groß, daß ich mich gar nicht über die Sache aufregen konnte. Ich erzählte

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/278&oldid=- (Version vom 31.7.2018)