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IX
Von Begegnungen und inneren Entscheidungen


1.

So war ich jetzt frei, und nachdem ich „zu meiner Erholung von der Krankenpflege“ das Graecum gemacht hatte (so wurde ich von Husserl geneckt), ging ich unverzüglich an die Doktorarbeit. Ich blieb dazu in Breslau, um jederzeit für eine Einberufung verfügungsbereit zu sein. Es war mir aber auch angenehm, ganz allein und unbeeinflußt zu arbeiten, ohne jede Unterbrechung durch unerwünschte Rechenschaftsberichte an den Meister. Die Beziehung zu ihm hatte durch die Entfernung nicht gelitten, sie war sogar noch wärmer und herzlicher geworden. Er, der seine beiden jungen Söhne in das Göttinger Freiwilligenregiment hatte gehen lassen, war auch voll Verständnis für meinen Entschluß, zu pflegen. Er begleitete meine Tätigkeit mit der herzlichsten Teilnahme, schrieb mir lange Briefe in seiner schönen, feinen und sorgfältigen Handschrift und hatte die größte Freude an meinen Berichten. Es rührte ihn auch, daß ich in seinem Heimatland Mähren war. Gleich erkundigte er sich, ob ich von Weißkirchen aus den Altvater sehen könnte, der ihm von seinem Geburtsort Prosnitz her vertraut war. Natürlich war es für mich immer ein Fest, wenn ein Brief des Meisters kam. Ich war ganz betrübt, als ich einmal feststellen mußte, daß einer verloren gegangen war. Er war so lieb, sich nach einiger Zeit besorgt zu erkundigen, wie es mir ginge, da er keine Antwort bekommen hätte. Auch der Verkehr mit den Freunden im Feld ging weiter. Wie freute ich mich, als Reinach schrieb: „Liebe Schwester Edith! Jetzt sind wir Kriegskameraden...“ Die längsten Briefe kamen von Kaufmann. Für ihn war der Kriegsdienst am härtesten. Trotzdem er sicherlich alle Pflichten mit der größten Gewissenhaftigkeit erfüllte, brachte er es niemals weiter als bis zum Gefreiten, während Reinach ziemlich schnell vom einfachen Kanonier bis zum Leutnant aufstieg. Außerdem fühlte er sich außerhalb des geistigen Milieus wurzellos. Gerade weil er als Philosoph, und besonders als Phänomenologe, noch nicht sicher gewesen war, fürchtete er durch die lange Unterbrechung des Studiums alles zu verlieren. Darum bot ihm die Verbindung mit mir einen Halt, für den er überaus dankbar

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/282&oldid=- (Version vom 31.7.2018)