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traten beide sofort in den Schuldienst ein. Erna siedelte damals aus der Frauenklinik für einige Zeit in das Städtische Säuglingsheim über, um sich dort als Assistentin die nötige Erfahrung in Säuglingspflege anzueignen. Von Lilli habe ich nicht mehr genau in Erinnerung, ob sie noch in der Frauenklinik war oder schon im Jüdischen Krankenhaus. Dort war sie jahrelang tätig, zuletzt sogar als Oberarzt der Frauenabteilung; ihr späterer Gatte arbeitete als Assistent unter ihr. Ihre Tüchtigkeit und herzliche Liebenswürdigkeit verschafften ihr großes Ansehen in den wohlhabenden jüdischen Kreisen, und das war eine vorzügliche Grundlage für ihre spätere Privatpraxis im Süden der Stadt.

Öfters führte mich auch der Weg, wie ich früher schon erzählte, in die Irrenanstalt in der Einbaumstraße, wo Dr. Moskiewicz als Oberarzt tätig war. In den ersten Kriegsjahren ging es noch ganz gut, aber allmählich wurde sein Zustand immer betrüblicher und darum auch der Verkehr mit mir immer quälender. Er wünschte die Zusammenkünfte, um von mir zu lernen, aber zugleich fürchtete er sie, weil sie ihm sein eigenes Unvermögen immer wieder klar machten. Je länger ihn die ärztliche Tätigkeit von der philosophischen und psychologischen Arbeit fernhielt, desto weniger hoffte er, je dahin zurückzufinden. Der aufreibende Verkehr mit den Geisteskranken tat das seine, um die Nervenzerrüttung immer mehr zu steigern. Sehr viel schrieb ich aber auch dem Verhältnis zu Rose zu, die er liebte und der er doch seine Hand nicht anzubieten wagte. Auch sie litt darunter: unter seinem Unglück und ihrer eigenen inneren Unklarheit und Unsicherheit. Sie glaubte ihn zu lieben, aber sie hatte nicht den Mut, dem Schwanken und Zögern von sich aus ein Ende zu machen. In den letzten Jahren nahm sie auch eine sehr nahe Freundschaft mit einem jungen Mathematiker innerlich stark in Anspruch.


2.

In dieser Zeit, in der so viel Menschliches auf mich eindrang und mich im Innersten traf, nahm ich doch meine ganze Kraft zusammen, um die Arbeit voranzutreiben, die mir nun schon über zwei Jahre als schwere Last auf der Seele lag. Wenn ich in Weißkirchen in dem dicken Stoß von Auszügen und Entwürfen geblättert hatte, war mir immer recht bange geworden. Und der schreckliche Winter 1913/14 war noch unvergessen. Jetzt legte ich entschlossen alles beiseite, was aus Büchern stammte, und fing ganz von vorn an: eine sachliche Untersuchung des Einfühlungsproblems nach phänomenologischer

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/284&oldid=- (Version vom 31.7.2018)