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Reinach einmal scherzend sagte, als er sich ausmalte, wie es sein würde, wenn er fiele. Dazu rechnete er außer seiner Frau und Pauline nur Erika Gothe und mich. Erika wurde übrigens auch für einige Tage erwartet. Weihnachten wollte und mußte sie zu Hause feiern. Aber zwischen Weihnachten und Neujahr wollte sie kommen, machte also die Fahrt zwischen Göttingen und Schwerin zweimal.

Natürlich war es für Frau Reinach ein Opfer, daß sie ihren Mann in den kurzen Urlaubstagen nicht für sich allein haben konnte. Aber sie brachte es gern, da sie wußte, daß es ihrem Mann Freude machte, uns wiederzusehen. Als Erika dann da war und wir beide einen Spaziergang machten, begegneten wir dem Ehepaar Husserl und Reinach, die auch miteinander ausgingen. Es gab eine kleine Begrüßung. Ich war schon einigemal vorher bei Husserl gewesen, aber Erika hatte es in den wenigen Tagen nicht für nötig gehalten, sich zu zeigen, da sie ja das ganze Semester in Göttingen zubrachte. „Fräulein Stein ist nur Herrn Reinachs wegen gekommen“, sagte Husserl neckend. (Er war überzeugt, daß ich meiner Arbeit wegen gekommen war, während ich fand, daß sein Scherz durchaus die Wahrheit traf). „Fräulein Gothe ist auch nur Herrn Reinachs wegen gekommen“, sekundierte Frau Malwine. Nun kam wieder der gute Meister: „Was sagt denn Herr Reinach dazu?“ „Ich bin ganz beschämt“, war die bescheidene Antwort. Nun aber kam die Höhe. „Was sagt denn Frau Reinach dazu?“, fragte Frau Husserl. Wir standen alle ganz bestürzt. Da ertönte es im schönsten Schwäbisch: „Ja, i kann das natürli am beschte verschtehe“. Der Bann war gebrochen. Wir verabschiedeten uns, Erika und ich gingen noch etwas niedergeschlagen heimwärts, die geschmacklosen Scherze gingen uns noch etwas nach. Da hörten wir schnelle Schritte hinter uns. Frau Reinach war uns nachgelaufen und rief jetzt ganz atemlos: „Fräulein Gothe, Fräulein Stein!“ Wir drehten uns um. „Sie kommen doch beide heute abend zu uns?“ Freudig sagten wir zu. Und das Entzücken über ihre natürliche Herzlichkeit und die Unbeirrbarkeit des Gefühls, die sie jeder Situation gewachsen sein ließ, verscheuchte alle Bedrücktheit.

Nun aber zurück zum Geburtstagskaffee. Die Gäste wurden erst im grauen Salon empfangen. Hie sah ich Husserl zuerst wieder. Und Putti Klein lernte ich bei dieser Gelegenheit überhaupt erst persönlich kennen. Ihre Freunde nannten sie immer noch mit ihrem Kindernamen. Nur ihr Vater rief sie stets „Elisabeth“. Und mir wurde sie natürlich als „Frau Staiger“ vorgestellt. Ich weiß nicht, ob sie gleich nach ihrer Kriegstrauung oder erst nach dem Tode ihres Mannes in ihr Elternhaus zurückgekehrt war. Sie half ihrem Vater bei seinen Arbeiten. Er war schwer leidend, ließ sich aber im Rollstuhl

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/287&oldid=- (Version vom 31.7.2018)