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zur Universität fahren und hielt Übungen im Mathematischen Seminar. Putti war groß und schlank, eine fürstliche Gestalt, ungebeugt durch ihr hartes Schicksal. Sie hatte zu viel Leben in sich, um in Trauer zu versinken.

Sehr bald nach meiner Ankunft hatte ich mich natürlich auch mit meinem Manuskript unter dem Arm zum Hohen Weg begeben. Der Meister ließ sich große Stücke vorlesen, war recht befriedigt und gab mir Anregungen zu mancherlei kleinen Ergänzungen. Bei Reinachs mußte ich über diese Besuche genau berichten und erregte großes Erstaunen, da es sonst gar nicht Husserls Art war, jemanden lange zuzuhören. Jedesmal wurde ich gefragt: „Ist es immer noch schön bei Husserl?“

Am Heiligen Abend war nur Pauline bei Reinachs. Ich konnte es gut verstehen, daß sie den Abend ganz still für sich sein wollten. Mich hatte Liane Weigelt zusammen mit einem älteren Studenten eingeladen, mit dem sie damals befreundet war. Sie hatte ihr behagliches Stübchen schön geschmückt und tat was sie konnte, um es uns drei nestlosen Vögeln recht weihnachtlich zu gestalten. Wir beide allein hätten uns sicher noch heimelicher gefühlt. Bei Herrn Schäfer spürte ich aber eine starre innere Kruste, an der ihre Bemühungen abspalteten. Tatsächlich bereitete er ihr bald darauf eine große Enttäuschung. Liane schlug vor, zur Mitternachtsmesse in die katholische Kirche zu gehen. Sie hatte das wohl in München öfters getan. Mir war es noch ganz fremd, aber ich ging freudig darauf ein. Wir gingen durch die dunkle Winternacht zur Kurzen Straße. Aber es war weit und breit niemand zu sehen, und die Kirchtür war fest verrammelt. Die Christmette war wohl erst am Morgen. So mußten wir enttäuscht heimkehren.

Am zweiten Weihnachtstage war ich mit Reinachs zusammen bei Husserls zum Abendessen eingeladen. Das war eine große Freundlichkeit von Frau Malwine, und ich freute mich sehr auf den Abend; aber es war natürlich ganz anders als ein Abend bei Reinachs. Außer uns waren noch andere Gäste da: Professor Jensen (Mediziner) mit seiner Frau und eine Schweizer Studentin. Jensens waren mit Husserls sehr nahe befreundet, mir aber ganz fremd. Es wurde viel politisiert, und in einer Weise, die uns wenig zusagte; auch die junge Schweizerin schien darunter zu leiden. Bei Tisch kam das Gespräch darauf, wo die Sitte des Weihnachtsbaums herstamme. Professor Jensen holte den Band W des Konversationslexikons herbei und las den Artikel „Weihnachtsbaum“ daraus vor. Frau Husserl forderte uns mit großer Wichtigkeit auf, festzustellen, was besser schmeckte: die Leckerli, die sie selbst gebacken hatte, oder die echten Basler von Fräulein Stählin. Als wir dann auf dem Heimweg waren, blieb Reinach

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/288&oldid=- (Version vom 31.7.2018)