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mit Begeisterung begrüßt. Herr Direktor Leugert ließ mir volle Freiheit. Die Obersekunda, die ich übernahm, war in Latein sehr verwahrlost, da sie häufig den Lehrer gewechselt hatte. Als ich einmal als Klassenarbeit eine Übersetzung ins Lateinische schreiben ließ, versagten die meisten. Sie verlangten danach, eine andere Arbeit dafür schreiben zu dürfen. Sie konnten sich dabei auf eine neuere Ministerialverfügung stützen, daß eine Arbeit nicht zu rechnen sei, wenn über ein Drittel der Klasse eine geringere Note als 3 hätte. Ich erwiderte aber: „O nein! Das Ergebnis entspricht nur den Tatsachen. Wenn jemand anders die Klasse übernimmt, kann er gleich sehen, daß über die Hälfte unter dem Durchschnitt ist, den man verlangen muß“. Trotzdem erkundigte ich mich bei Professor Leugert, ob ich ein Recht hätte, die Verfügung unbeachtet zu lassen. „Das überlasse ich ganz Ihnen, gnädiges Fräulein“, erwiderte er freundlich. „Tun Sie nur, was Sie für richtig halten“.

Wenn ich bei solchen Gelegenheiten streng erscheinen mochte, so stand ich doch gut mit meinen Schülerinnen. Es gab eine freigebildete Wandergruppe unter einer selbstgewählten Leiterin, einer jungen Turnlehrerin. Einmal baten die Mädchen mich, an Stelle von Fräulein Walter mit ihnen hinauszugehen. Ich sagte bereitwillig zu und war den ganzen Sonntag mit ihnen im Freien, richtig wandervogelmäßig mit Zupfgeigen und Kochgeschirr. An einem Mühlbach wurde abgekocht. Eine aus der Gruppe kannte die Müllersleute und bekam von ihnen einen großen Topf Milch geschenkt. Davon wurde das Hauptgericht – Schokoladenpudding – hergestellt. Ich brauchte nicht zu kochen, aber die Kessel wurden mir vor die Nase getragen, um zu begutachten, ob es kochte.

Ganz eigentümlich war es mir, im Lehrerinnenzimmer unter meinen alten Lehrerinnen zu sitzen und den Konferenzen beizuwohnen. Wie oft hatten wir uns als Kinder gewünscht, in einem verborgen Winkel als kleine Mäuschen zu sitzen und zuzuhören! Nun war es mir, als sei der Wunsch in Erfüllung gegangen. Und merkwürdig: es ging nicht viel anders zu, als wir es uns damals vorgestellt hatten. Es gab tatsächlich Leute, die sich über kindliche Fehler schrecklich aufregten und moralisch entrüsteten. Daneben gab es freilich auch junge Kräfte, die kameradschaftlich mit den Kindern standen und für sie eintraten. Ein sehr gutes Verhältnis bestand zwischen Oberlehrer Kretschmar und den Klassen, die ich übernommen hatte. Ich betrachtete mich auch durchaus nur als seine Stellvertreterin und bemühte mich, in seinem Sinn zu arbeiten. Ich gab ihm manchmal brieflich Bericht über den Stand der Dinge, legte ihm vor dem Abitur die Texte vor, die ich für die mündliche und schriftliche Prüfung ausgewählt hatte – wir durften für jedes

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/292&oldid=- (Version vom 31.7.2018)