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Fach drei Prüfungsaufgaben vorschlagen; das Provinzial-Schulkollegium bestimmte dann eine davon – und als er einmal für ein paar Tage von Schreiberhau nach Breslau kam, sprachen wir ausführlich miteinander. Dabei konnte ich feststellen, daß er durch Briefe der Kinder über die Ereignisse des Schullebens bis in alle Einzelheiten unterrichtet war. Die Kur, die er damals durchmachte, erlaubte ihm, noch einmal in die Schule zurückzukehren. Aber wenige Jahre später starb er.

Die andern Herren, so weit sie nicht im Felde standen, gehörten alle der älteren Generation an. Sie hielten sich während der Pausen und Freistunden in einem eigenen Zimmer neben dem der Lehrerinnen auf. Als Grund wurde angegeben, daß sie ungestört rauchen wollten. Nur zu den Konferenzen kamen sie zu uns herüber. Die rechte Hand des stellvertretenden Direktors war Professor Köhler, bei dem ich einst meinen ersten Chemieunterricht gehabt hatte. Damals hatte er den Spitznamen „Mariechen schon’s Chlor“. Sein naturwissenschaftlicher Unterricht war nicht schlecht, aber als Mathematiklehrer war er so wenig glücklich, daß die meisten Schülerinnen Nachhilfeunterricht brauchten. Das war in früheren Jahren eine Haupteinnahmequelle für meinen Vetter Richard gewesen. Erna hatte noch unter diesem mangelhaften Unterricht gelitten, später wurden die Mathematikstunden – wenigstens in den Oberklassen – in andere Hände gegeben.

Zu den „Heimkriechern“, die noch dem Kollegium angehörten, zählten Professor Gnerich. In meiner Schulzeit war er als junger Lehrer an die Schule gekommen und viel angeschwärmt worden; es machte auch den Eindruck, daß er darauf Wert legte. Von den Schülerinnen der oberen Gymnasialklassen wurde er durchaus abgelehnt. Auf einem Schulausflug hörte ich die seufzende Frage: „Wann kommt er denn endlich ins Feld?“ Bei den Konferenzen hatte er viel über Respektlosigkeit zu klagen; gerade die begabtesten und eifrigsten Schülerinnen standen mit ihm auf Kriegsfuß. Begreiflicherweise ärgerte es ihn sehr, wenn dann Fräulein Zucker und ich erklärten, daß bei uns das Verhalten der Mädchen tadellos sei. Fräulein Zucker war eine sehr kluge und tüchtige Germanistin, einige Semester älter als ich, aber wir kannten uns noch von der Universität her. Auch sie war zur Aushilfe während des Krieges an die Schule gerufen worden. Früher hätten wir beide wegen unserer jüdischen Abstammung keine Aussicht auf Beschäftigung an der Anstalt gehabt, da die Viktoriaschule – wie Professor Leugert auf einer Konferenz einmal sagte – „immer als protestantisch gegolten hatte“.

Großer Beliebtheit erfreuten sich die beiden Studentinnen, Käthe Friedental und Lotte Stern, sehr hübsche, frische und begabte Mädchen.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/293&oldid=- (Version vom 31.7.2018)