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In jeder Pause klopfte es mehrmals an die Tür des Lehrerinnenzimmers, und meist wurde dann eine der beiden hinausgerufen, weil die Kinder eine unaufschiebbare Frage hatten. Die älteren Lehrerinnen wechselten dann einen vielsagenden Blick.

Ich hatte meinen Platz zwischen Fräulein Sonke, einer tüchtigen älteren Sprachlehrerin, und Fräulein Heisler, die Turn- und Handarbeitsunterricht gab. Auch sie war schon seit Jahrzehnten im Schuldienst. Ihre etwas hysterisch gesteigerte Lebhaftigkeit und Heiterkeit war mir manchmal nicht ganz leicht zu ertragen. Sie ihrerseits hatte an mir auszusetzen, daß ich alle Pausen durch Hefte korrigierte und wenig zu sprechen war. Sonst aber hielten wir gute Kameradschaft.

Professor Leugert hatte Wort gehalten und mir einen Stundenplan zurechtgemacht, der keine einzige Hohlstunde enthielt. Nach Ostern allerdings, als Professor Köhler den neuen Stundenplan für die ganze Schule machte, glückte es nicht mehr ganz. Ich benützte dann die freie Zeit zwischen meinen Unterrichtsstunden – ebenso wie die Pausen und sogar die Konferenzen, solange über fremde Klassen gesprochen wurde –, um Hefte zu korrigieren und mich vorzubereiten; so brauchte ich keine Hefte mit nach Hause zu nehmen.

Bald nach meinem Eintritt in den Schuldienst mußte ich mich im Provinzialschulkollegium persönlich vorstellen. Ich machte den Besuch gemeinsam mit Rose Guttmann, die damals ihre Tätigkeit an der Augustaschule begann. Dezernent für die höheren Mädchenschulen war seit einiger Zeit Provinzialschulrat Jantzen, den wir als jungen Lehrer in der Viktoriaschule gehabt hatten. Von uns aus war er als Direktor nach Königsberg geschickt, nun aber in den Verwaltungsdienst seiner Heimatprovinz berufen. Die jugendliche Schlankheit hatte er eingebüßt, war breit und kräftig geworden; auch das Gesicht war viel voller als früher, hatte aber noch die bleiche Farbe. Die hellblonden Haare und der rote Bart waren unverändert – wir hatten ihn als Kinder „Donar“ genannt, nachdem er uns von den Göttern der Germanen gesprochen hatte. Er hielt unsere Visitenkarten noch in der Hand, als er uns empfing. Ich fragte, ob er sich unserer noch erinnere. „Freilich kenne ich Sie noch“, sagte er. „Edith Stein – Sie sind ja bei mir in der IV. Klasse gewesen“. Er hatte uns auch in der V. und III. Klasse unterrichtet, aber in der IV. war er unser Klassenlehrer gewesen, und dieses Jahr war mir in besonders lieber Erinnerung. Als er hörte, daß ich schon vor über einem Jahr mein Staatsexamen gemacht und bisher die praktisch-pädagogische Ausbildung noch gar nicht begonnen hatte, riet er mir dringend, mich für Ostern zum Eintritt in das Seminarjahr zu melden. Ich hatte einige Bedenken, da ich nach Beendigung meiner Doktorarbeit nach Freiburg gehen wollte. Ich fragte, ob ich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/294&oldid=- (Version vom 31.7.2018)