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Tätigkeit, die man verfolgen konnte, von der man am Familientisch erzählen konnte, während mein Studium mich in eine unerreichbare Welt entrückt hatte. Ich war wieder im Kreis der alten Freundinnen.

Oft verbrachte ich den Nachmittag bei Erna im Säuglingsheim und arbeitete auf dem schönen Balkon ihrer Dienstwohnung, wo es luftiger war als in der Michaelisstraße. Ich glaube, auf Lilli Plataus Anregung, begannen wir Mensendieck-Gymnastik zu treiben, „um nicht einzurosten“. An einem Abend der Woche trafen wir uns bei einer tüchtigen Mensendieck-Lehrerin: Lilli, wir vier Schwestern Stein, Rose und Hede Guttmann; auch Suse Mugdan, Nelli und Grete Henschel nahmen teil. Diesen letzten Namen habe ich schon einmal in anderm Zusammenhang erwähnt: Grete Henschel gehörte auch zu dem Kreis, mit dem ich etwas Phänomenologie trieb. Sie hatte mit Nelli zusammen das Abitur gemacht, war also eine Reihe von Jahren älter als ich. Mit einer philosophischen Arbeit bei Kühnemann hatte sie promoviert. Wenn man mit ihr sprach, bekam man den Eindruck einer glänzenden Begabung, sie hatte auch immer Ideen zu großen Arbeiten, aber es kam niet etwas zustande. Wir beide waren denkbar verschieden. Sie war ein jüdischer Rassetypus, dunkelhaarig, übermäßig stark, laut und lebhaft, übersprudelnd witzig und schlagfertig. Meine ruhige und ernsthafte Art schien eine große Anziehungskraft auf sie auszuüben; sie kam häufig zu mir, und wenn wir unsern philosophischen Abend bei ihr hatten, begleitete sie mich um Mitternacht zu Fuß nach Hause – es war ein Weg von einer Stunde –, obwohl sie sonst recht bequem war. Auch zu meiner Mutter faßte sie eine warme Zuneigung; und wenn sie in die Schlesische Handelsbank kam, in der ihr Schwager Direktor, mein Bruder Paul aber ein wenig angesehener Angestellter war, dann versäumte sie es nicht, Paul rufen zu lassen und ein wenig mit ihm zu plaudern, weil sie hinter dem allzu bescheidenen Auftreten den verborgenen Wert erkannte. Mich weihte sie bald in ihre geheimen Sorgen ein: ihre Unfähigkeit zu planmäßiger und geregelter Arbeit, die ihre Begabung unfruchtbar machte, und ihre Unentschlossenheit in der Frage einer Bindung fürs Leben. Seit ihrer Studienzeit war sie befreundet mit dem Philosophen Julius Guttmann, dem ältesten Sohn des Rabbiners Jakob Guttmann, eines bekannten Gelehrten. Julius war damals Privatdozent in Breslau; ich hatte keine Vorlesungen bei ihm gehört, war aber einmal bei Moskiewicz mit ihm zusammengetroffen und hatte stundenlang mit ihm über Phänomenologie diskutiert, da er als Kantianer grundsätzliche Einwände hatte. Er stand zu Grete Henschel seinem ganzen Wesen nach in nicht geringerem Gegensatz als ich: äußerlich klein und unscheinbar, bescheiden in seinem Auftreten, ein feiner, stiller Gelehrter und ein

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/296&oldid=- (Version vom 31.7.2018)