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Vom Rigorosum in Freiburg


1.

Die Osterferien benützte ich, um meine Arbeit zu diktieren. Meine Cousinen Adelheid Burchard und Grete Pick, beide sehr tüchtige Stenotypistinnen, stellten sich mir zur Verfügung und kamen abwechselnd in ihrer dienstfreien Zeit zu mir. Alle Sonn- und Feiertage wurden dafür ausgenützt. Es war eine große Arbeit, denn die Dissertation war zu einem unheimlichen Umfang angeschwollen. Ich hatte in einem ersten Teil, noch in Anlehnung an einige Andeutungen in Husserls Vorlesungen, den Akt der „Einfühlung“ als einen besonderen Akt der Erkenntnis untersucht. Von da aber war ich weitergegangen zu etwas, was mir persönlich besonders am Herzen lag und mich in allen späteren Arbeiten immer wieder neu beschäftigte: zum Aufbau der menschlichen Person. Im Zusammenhang jener Erstlingsarbeit war diese Untersuchung notwendig, um begreiflich zu machen, wie sich das Verstehen geistiger Zusammenhänge vom einfachen Wahrnehmen seelischer Zustände unterscheidet. Für diese Fragen waren mir Max Schelers Vorlesungen und Schriften, sowie die Werke von Wilhelm Dilthey von großer Bedeutung. Im Anschluß an die umfangreiche Einfühlungsliteratur, die ich durchgearbeitet hatte, fügte ich noch einige Kapitel über Einfühlung auf sozialem, ethischem und aesthetischem Gebiet an. Diese Teile habe ich später nicht mit drucken lassen.

Das Manuskript, auf starkem weißem Aktenpapier getippt, war so umfangreich, daß ich es nicht in einem Band binden lassen konnte. Es hätte einen Folianten ergeben, der für den guten Meister allzu unhandlich gewesen wäre. So ließ ich drei Hefte mit biegsamem blauen Pappeinband herstellen, dazu eine feste Mappe, in die alle drei hineingelegt wurden. In dieser Aufmachung ging das Opus kurz nach Ostern als Postpaket nach Freiburg ab. Ich bat Husserl, es im Lauf des Sommers zu prüfen. Im Juli, während meiner Großen Ferien, wollte ich selbst nachkommen, um das Rigorosum zu machen. Der Meister freute sich über das stattliche Werk, bereitete mich aber gleich darauf vor, daß er nicht leicht Zeit finden würde, es durchzusehen. Es war sein erstes Freiburger Semester. Er hielt ein Kolleg

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/298&oldid=- (Version vom 31.7.2018)