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zur Einführung in die Philosophie und arbeitete es mit größter Sorgfalt ganz neu aus, um den neuen Schülern das Verständnis für die phänomenologische Methode zu erschließen. Das nahm seine ganze Kraft in Anspruch. Ich ließ mich dadurch nicht einschüchtern. Meine schulfreie Zeit benützte ich jetzt zur Vorbereitung auf die mündliche Prüfung. Auch sonst rüstete ich mich für die große Reise. Seit ich in den Schuldienst eingetreten war, hatte ich es schon für notwendig gefunden, mit größerer Sorgfalt meine Kleider zu wählen. Es war mir klar, wie sehr man beobachtet wird, wenn man vor jungen Mädchen auf dem Katheder steht, und ich wollte ebenso wenig durch Nachlässigkeit wie durch übertriebenen Putz auffallen. Für die Reise mußten noch einige neue Sachen angeschafft werden. Für die Prüfung selbst spendete meine Mutter mir das erste seidene Kleid. (Seidene Kleider trug man damals nur bei feierlichen Gelegenheiten. Meine Schwestern hatten die ersten in ihrer Aussteuer bekommen, als sie heirateten. Erst als in den letzten Kriegsjahren keine Wollstoffe mehr zu haben waren, wurde Seide etwas Alltägliches). Wir wählten miteinander einen schweren, weichen Seidenstoff; die Farbe war ein mattes Pflaumenrot.

Ich freute mich sehr auf die Reise. Zum erstenmal sollte ich über die „Mainlinie“ hinausgelangen. Ich kannte ja Süddeutschland noch gar nicht und hatte mich schon immer danach gesehnt. Der Aufenthalt in Freiburg sollte zugleich meine Ferienerholung bilden. Suse Mugdan hatte ein Semester dort studiert und gab mir verschiedene gute Ratschläge mit. Vor allem sollte ich nicht im Innern der Stadt, sondern draußen in Günterstal wohnen. Dann wäre ich schon im Schwarzwald. In den ersten Julitagen hatten wir Schulschluß. Ich reiste sofort ab. Ich kann gar nicht sagen, wie tief ich aufatmete, als ich die Schule hinter mir hatte. Ich stellte fest, daß für die Lehrer die Ferien noch viel, viel schöner sind als für die Kinder. (Meine Freundin Erika Gothe erklärte später: „Ferien zur Erholung von der Schule sind schön. Aber Ferien ohne Schule sind noch schöner“).

Eine erste große Freude erwartete mich in Dresden. Hans Lipps war dort bei seiner Mutter; mein erster Ferientag war sein letzter Urlaubstag, wir konnten uns gerade noch in Dresden treffen und zusammen bis Leipzig fahren. Er erwartete mich am Bahnhof. Auch er war im Kriege stärker geworden und sah in seiner feldgrauen Uniform mit den braunen Ledergamaschen sehr stattlich aus. Wir hatten nicht genügend Zeit, um noch seine Mutter aufzusuchen. So warteten wir auf die Abfahrt unseres Zuges in einem Café in der Nähe des Bahnhofs. Wir tauschten Nachrichten über unsern Kreis aus. Dabei fragte er: „Gehören Sie auch zu diesem Klub in München,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/299&oldid=- (Version vom 31.7.2018)