Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/30

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und ich habe den Eindruck, daß er sich dabei wohler fühlt als je in seinem Leben. (Wenn ich auf diesen Blättern manches niederschreiben muß, was meinen lieben Geschwistern als Kritik ihrer Schwächen erscheinen mag, so werden sie mir das verzeihen. Man kann das Leben einer Mutter nicht schildern, ohne auf das einzugehen, was sie mit ihren Kindern erlebt und durch sie gelitten hat. Wenn ich schließlich selbst an die Reihe komme, werde ich mit mir nicht glimpflicher verfahren als mit den andern).

Meine Schwester Else hätte die Stütze meiner Mutter sein und ihr den Haushalt abnehmen sollen. Sie war aber sehr gut begabt und hatte beschlossen, Lehrerin zu werden (der einzige höhere Bildungsweg, der damals für Mädchen offen stand). Meine Mutter gab ihr schließlich die Erlaubnis, das Seminar zu besuchen. Trotzdem mußte sie sich um die Wirtschaft und die kleinen Geschwister kümmern, bis die jüngeren Schwestern so weit waren, die Pflichten zu übernehmen. Sie führte das häusliche Regiment mit großer Strenge und äußerster Sparsamkeit, so daß alle etwas unter diesem Joch seufzten. Nur ich machte eine Ausnahme, weil ich, als ein kleines Kind, noch mit Kosenamen und Zärtlichkeiten verwöhnt wurde; auf diese Auszeichnung war ich sehr stolz und hing mit großer Liebe an meiner schönen Schwester. Meine Mutter hat manchmal gesagt, jedes ihrer Kinder gebe ihr besondere Rätsel auf. Ihre Älteste war als ein ungewöhnlich schönes, begabtes und vielseitig interessiertes Mädchen stets umschwärmt von Verehrern beiderlei Geschlechts.

So kam sie dazu, sich für etwas Besseres zu halten als ihre Umgebung, sah auf die Geschwister als auf minder ausgezeichnete Menschen etwas herab[1] und war zu Hause niemals zufrieden. Sie war oft lange Zeit als Gast bei auswärtigen Verwandten – manchmal zur Pflege von Kranken, denn sobald irgendwo in der weitverzweigten Verwandtschaft eine Hilfe nötig war, schickte meine Mutter eine ihrer Töchter hin; manchmal auch nur zur Abwechslung. Einigemale nahm sie auch Erzieherinnenstellen in der Provinz an. Aber sobald sie fern von der Familie war, sehnte sie sich noch viel mehr zurück als sie sich vorher fortgesehnt hatte. Diese Unruhe hat sie niemals verlassen, auch nicht, seit sie eigene Familie hat; beinahe hätte ihre Ehe daran Schiffbruch gelitten. Schon bald nach der Hochzeit begann der Jammer darüber, daß sie von den Ihren getrennt sei; am liebsten hätte sie immer jemanden von den Geschwistern bei sich gehabt. Auch jeder entfernte Verwandte, ja jeder Fremde der nur irgendwelche Beziehungen zur Heimat hat, ist ihr ein hochwillkommener


  1. Auch darin betrachtete sie mich als Ausnahme. Als ich anfing in die Schule zu gehen und die erste „Prämie“, ein schönes Märchenbuch, nach Hause brachte, sagte sie stolz: „Das ist meine Schwester“.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/30&oldid=- (Version vom 31.7.2018)