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studieren. Daraus war nichts geworden. Nun wollte ich es wenigstens kennenlernen, und so unterbrach ich für einen Tag die Fahrt. Übrigens bin ich nicht sicher, ob das auf dieser Reise war oder einige Monate später, als ich wiederum nach Freiburg fuhr. Ebenso weiß ich nicht mehr recht, auf welcher der beiden Fahrten ich mich in Frankfurt mit Pauline Reinach traf. Wir hatten uns viel zu sagen, während wir durch die Altstadt schlenderten, die mir aus Goethes Gedanken und Erinnerungen so vertraut war.

Es machten aber andere Dinge mehr Eindruck auf mich als der Römerberg und der Hirschgraben. Wir traten für einige Minuten in den Dom, und während wir in ehrfürchtigem Schweigen dort verweilten, kam eine Frau mit ihrem Marktkorb herein und kniete zu kurzem Gebet in einer Bank nieder. Das war für mich etwas ganz Neues. In die Synagogen und in die protestantischen Kirchen, die ich besucht hatte, ging man nur zum Gottesdienst. Hier aber kam jemand mitten aus den Werktagsgeschäften in die menschenleere Kirche wie zu einem vertrauten Gespräch. Das habe ich nie vergessen können.

Pauline führte mich später am Main entlang in das Liebig’sche Institut, wo Myrons Athena steht. Aber ehe wir zu ihr gelangten, kamen wir in einen Raum, wo von einer Flämischen Grablegung aus dem 16. Jahrhundert vier Figuren aufgestellt waren: die Mutter Gottes und Johannes in der Mitte, Magdalena und Nikodemus an den Seiten. Das corpus Christi war nicht mehr vorhanden. Diese Figuren waren von so überwältigendem Ausdruck, daß wir uns lange nicht davon losreißen konnten. Und als wir von dort zur Athena kamen, fand ich sie nur überaus anmutig, aber sie ließ mich kalt. Erst viele Jahre später habe ich bei einem erneuten Besuch den Zugang zu ihr gefunden.

In Heidelberg hatte ich auch eine gute Führerin: Elisabeth Staiger, die Tochter des Göttinger Mathematikers Felix Klein. Wahrscheinlich habe ich schon von ihr erzählt, denn ich lernte sie Weihnachten 1915 bei Reinachs kennen. Sie war nach dem Tode ihres Mannes wieder in den Schuldienst gegangen und nun hier an einer Bubenschule tätig. Es machte ihr die größte Freude, mit mir Schulerfahrungen auszutauschen. Ich habe das Heidelberger Schloß, den Neckar und die schönen Minnesängerhandschriften in der Universitätsbibliothek gesehen. Und doch hat sich wieder etwas anderes tiefer eingeprägt als diese Weltwunder: eine Simultankirche, die in der Mitte durch eine Wand geteilt ist und diesseits für den protestantischen, jenseits für den katholischen Gottesdienst benützt wird.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/301&oldid=- (Version vom 31.7.2018)