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4.

In diesen Tagen kam meine Freundin Erika Gothe von Göttingen, Auch für sie sollte es die Ferienerholung sein; zugleich wollte sie mir beistehen, daß ich nicht mutterseelenallein am Prüfungstage hier sei. Ich holte sie vom Bahnhof ab. Als wir dann in meinem kleinen Stübchen beisammensaßen, legte ich meine Schwarzwaldkarte vor sie hin und zeigte ihr: Hier ist der Feldberg. Da müssen wir einmal hin. Auch an den Bodensee müssen wir einmal. Erika strahlte vor Freude und umarmte mich. Reinachs hatten ihr dringend abgeraten, zu mir zu fahren. Ich würde jetzt doch nur fürs Examen arbeiten und für nichts anderes zu haben sein. Nun wurde sie für ihre Freundestreue belohnt. Wir mußten es aber schlau anstellen mit unsern Ausflügen. Es durfte kein Husserl-Kolleg geschwänzt werden. Für den Feldberg mußte die Zeit von einer Vorlesung zur andern reichen. Wir machten den Hinweg ganz zu Fuß, von Günterstal über den Schauinsland, übernachteten unterwegs und konnten nachmittags stolz nach der Vorlesung erzählen, daß wir früh auf dem Feldberg gewesen waren und beim Morgenkaffee die Alpen gesehen hatten. Mit der Fahrt zum Bodensee warteten wir bis zu den letzten Tagen vor der Prüfung. Dafür mußten wir etwas mehr Zeit haben und benützten den Samstag und Sonntag. Wir beschlossen, bei Husserls vorläufig nichts zu erzählen, weil es den Meister beunruhigen könnte, daß ich mir so etwas unmittelbar vor dem Examen gönnte. Als wir auf dem Wiehrer Bahnhof die Höllentalbahn erwarteten, bemerkten wir die ganze Familie auf dem Bahnsteig. Sie stiegen nicht weit von uns entfernt in denselben Zug und fuhren eine Strecke weit mit, ich glaube, bis Hinterzarten. Es kam uns vor, als wollten sie so wenig von uns gesehen werden wie wir von ihnen. Gerhart war bei ihnen; er war nur für wenige Tage auf Urlaub da, und wir nahmen an, daß die Eltern gern mit ihrem Sohn allein sein wollten. Wir fuhren durch das ganze Höllental durch nach Donaueschingen. Dort nahmen wir den Zug nach Singen hinunter. Als wir kürzlich vom Feldberg herab im Osten die Hegauer Berge wie Schaumkämme aufsteigen sahen, hatte ich beschlossen, daß wir den Hohentwiel besuchen wollten. Wir blieben über Nacht in Singen. Es war schön, am Abend auf den Berg hinaufzusteigen, in der alten Burg herumzuwandern, an Eckehart zu denken und an Schillers Jugendjahre, da so mancher Gefangene auf dieser Zwingburg schmachtete. Am Morgen ging es weiter an den See. Eine alte Frau fuhr uns von Radolfszell im Kahn beim Klang der Kirchenglocken hinüber nach der Insel Reichenau. Das Kloster hat mir damals keinen besonders tiefen Eindruck gemacht. Weingärten unter tiefblauem

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/305&oldid=- (Version vom 31.7.2018)