Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/306

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Himmel, in blendendem Sonnenlicht, umspielt von den grünen Wellen des Sees – das ist es, was mir von diesem Tag geblieben ist.

Neben fröhlichen Wanderfahrten gab es aber auch sehr ernste Eindrücke in diesen Tagen. Gleich in der ersten oder zweiten Nacht nach Erikas Ankunft wurden wir von einem Fliegerangriff geweckt. Ich war es schon so gewöhnt und kümmerte mich nicht viel darum. Erika schlief in einem andern Zimmer, Wand an Wand mit dem alten Ehepaar. Plötzlich klopfte mir der Mann und sagte in seinem badischen Dialekt, mein Kamerad weine. Ich zog mich schnell an und lief zu ihr hinüber. Sie war in der Tat in Tränen aufgelöst, aber nicht aus Angst für sich selbst. Man hatte ihr erzählt, in Freiburg sei das Geschützfeuer aus den Vogesen zu hören, und drüben stand ihr Bruder Hans als Leutnant. Nun hörte sie das Krachen der Granaten und sagte: Wenn das hier schon so entsetzlich klingt, was muß es drüben für eine Hölle sein! Ich kniete vor ihrem Bett und beruhigte sie. Was wir hörten, seien die Abwehrgeschütze, die vom Schloßberg herab Sperrfeuer über die ganze Stadt legten. Von den Vogesen könne man nur ein dumpfes Dröhnen hören. Nun versiegten die Tränen sofort. Erika war völlig getröstet. Sie hatte sogar Augen für das Kleid, das ich schnell übergeworfen hatte. „Sie haben Ihren Stil gefunden“, sagte sie. Seit ich Lehrerin war, gab ich mir Mühe, tadellos gekleidet zu sein. Ich stand ja vor erwachsenen Mädchen aus den besten Familien auf dem Katheder und wußte, was für scharfe Augen sie für das Äußere hatten. Ich wollte so wenig durch Nachlässigkeit wie durch übertriebene Eleganz Anstoß geben, sondern möglichst unauffällig sein, um die Aufmerksamkeit so wenig als möglich vom Unterricht auf meine Person abzulenken.

Natürlich mußte ich meine Vorbereitung auf die mündliche Prüfung trotz Erikas Ferien fortsetzen. Wir hatten jetzt früh noch mehr auf die Berge hinaufzuschleppen. Während ich mit meinen Büchern beschäftigt war, studierte Erika meine Arbeit. Sie ging auch ganz getreu nachmittags mit in Husserls Vorlesung, und wir warteten nun nachher zu dritt auf ihn. Einmal sagte er beim Herauskommen zu mir: „Es ist gut, daß Sie jetzt nicht mit im Dozentenzimmer waren, sonst könnten Sie eitel werden; ich habe den andern Herren von Ihnen erzählt, habe auch Ihre Verdienste im Krieg als Schwester hervorgehoben“. Es war ihm sehr viel daran gelegen, daß ich die Prüfung gut bestand. Es hatte ja noch niemand aus seinem Schülerkreis in Freiburg promoviert, ich als erste sollte nun einen guten Eindruck machen. Er hatte schon bei mehreren Prüfungen mitgewirkt, da Philosophie öfters als Nebenfach gewählt wurde. Als wir einmal abends bei ihm eingeladen waren, erzählte

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/306&oldid=- (Version vom 31.7.2018)