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Gast. Die Mutter bedeutet für sie das höchste Ideal und sie hat auch ihren Kindern eine herzliche Liebe zur Großmutter und allen Angehörigen eingepflanzt. Sie spart das ganze Jahr, um eine Reise „nach Hause“ zu ermöglichen. Und dann leiden beide Teile darunter, daß kein harmonisches Zusammensein möglich ist.

Mein Bruder Arno besuchte eine Realschule in Breslau. Nach der Einjährigenprüfung gab ihn meine Mutter nach außerhalb, um den Holzhandel zu erlernen. Nach Ablauf seiner Lehrzeit kam er noch zu gründlicher kaufmännischer Ausbildung in eine Breslauer Ölfabrik. Dann nahm ihn meine Mutter als Mitarbeiter ins Geschäft. Er war erst „Junger Mann“, dann Prokurist, bis ihm meine Mutter vor einigen Jahren die Stelle des „Chefs“ abtrat. Sie arbeitet noch heute an seiner Seite und ist ihm unentbehrlich. Meine beiden Brüder ehren sie als das Haupt der Familie und fragen in allen Dingen um ihren Rat. Trotzdem hat meine Mutter in der jahrzehntelangen täglichen Zusammenarbeit manches zu leiden gehabt.

Mein Bruder ist sehr heftig und verliert im Zorn die Herrschaft über sich selbst. Wenn das bei einer Meinungsverschiedenheit mit meiner Mutter geschieht, geht sie still hinaus, „damit er sich nicht versündige“. Aber seine Heftigkeit macht ihn auch ungeeignet zum Verkehr mit den Kindern, so daß sie oft vermitteln muß. Ein weiterer Kummer war es meiner Mutter, daß ihr Sohn nicht wie sie seine ganze Kraft dem Geschäft widmete, sondern sich durch eine vielfältige Vereinstätigkeit und Übernahme immer neuer Ehrenämter zersplitterte. Am meisten Sorge aber haben meine Brüder der Mutter durch die Wahl ihrer Ehefrauen gemacht. Mein Bruder Paul war sehr jung, als er sich heimlich verlobte. Er hat den Verkehr mit seiner Braut jahrelang gegen den Willen meiner Mutter fortgesetzt, und schließlich, weil er ihre Einwilligung zur Verlobung nicht erlangen konnte, heimlich das Haus verlassen. Meine Schwester Erna und ich waren damals noch Kinder. Wir wachten eines Abends auf und sahen unsere Mutter weinen. Wir liefen zu ihr hin, kletterten auf ihren Schoß und suchten sie zu trösten. Erst nach Jahren haben wir erfahren, daß an jenem Abend unser ältester Bruder vermißt wurde und daß unsere andern Geschwister ihn suchten. Er war seiner Braut nach Berlin nachgereist und meldete sich erst schriftlich von dort. Die Ehe wurde geschlossen, die Hochzeit als Familienfest von uns gefeiert, das junge Paar in allen Notfällen selbstverständlich unterstützt, das älteste Enkelkind mit der zärtlichsten Liebe umgeben – aber ein herzliches Verhältnis zur Schwiegertochter hat sich niemals hergestellt, obgleich meine Schwägerin Trude sich immer wieder darum bemühte.

Mein Bruder Arno hat seine Braut im Einverständnis mit meiner

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/31&oldid=- (Version vom 31.7.2018)