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aber, daß es dort nur etwas Süßes geben würde, so wollten wir noch vorher irgendwo ein Nachtessen nehmen. Ingarden schlug zwar vor, darauf zu verzichten, da wir aber nicht darauf eingingen, führte er uns zu einem Restaurant in der Nähe. Hier wollte er sich verabschieden. Es kam heraus, daß er kein Geld hatte. Sein Monatswechsel war noch nicht eingetroffen, und vom alten Monat war nichts mehr übrig. „Es ist doch selbstverständlich, daß Sie heute mein Gast sind“, sagte ich. Als wir mit dem Essen fertig waren, schob ich ihm heimlich mein Geldtäschchen zu und ließ ihn für uns alle bezahlen.

Nun war es aber reichlich spät geworden. Bei Husserls warteten schon alle auf uns. Frau Husserl und Elli hatten einen prächtigen Kranz aus Efeu und Margeriten gewunden. Der wurde mir statt eines Lorbeerkranzes aufgesetzt. „Wie eine Königin“, sagte der kleine Meyer ganz begeistert. Husserl strahlte vor Freude. Der Dekan selbst hatte das Prädikat Summa cum laude vorgeschlagen. Es war wohl nach Mitternacht, als wir uns verabschiedeten. Es ging keine Straßenbahn mehr. Wir mußten im Stockfinstern den Weg zu Fuß machen. Wegen der Fliegergefahr war ja immer alles völlig abgedunkelt. Ingarden begleitete uns bis vor unser Häuschen. Er hatte gehört, daß ich am 1. Oktober wiederkäme, und war ganz glücklich, daß er dann nicht mehr allein in Freiburg sein werde.

Drinnen wurde die junge Frau wach, als wir hereinkamen. Ich hatte noch den Kranz auf. „So müßte man Sie photographieren“, sagte sie, „solange noch der Glückstrahl da ist. Sonst hat sie immer so ein schaffig’s Gesicht“.

Am Morgen telegraphierte ich nach Hause, um das Ergebnis und die Stunde meiner Ankunft zu melden. Dann reisten wir ab. Ich weiß nicht mehr, warum Erika nicht mehr mit nach Göttingen fahren konnte. Ich erinnere mich nur, daß ich allein dort ankam. Frau Reinach erwartete mich, ich nahm aber ein Zimmer in Gebhards Hotel am Bahnhof, weil ich am nächsten Morgen schon weiterfahren mußte. Dann fuhren wir in einer Taxe zum Steinsgraben.



Druck: Drukkerij „De Maas en Waler“, R. Bosman, Druten (Gld)
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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/311&oldid=- (Version vom 31.7.2018)