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Ernüchterung umso größer, und die Entthronten mußten sich nun eine umso schärfere Kritik gefallen lassen[1].

Da Rosa keine besondere Neigung zu einem Beruf zeigte, wurde beschlossen, daß sie gründlich die Hausarbeit erlernen sollte, um später den mütterlichen Haushalt zu führen. Zur Ausbildung wurde sie zu den Tanten nach Lublinitz geschickt, um dort in einem musterhaft geleiteten Hause in alle Arbeiten eingeführt zu werden. Das Jahr, das sie dort zubrachte, ist ein sehr glückliches für sie gewesen, und sie hat es immer in dankbarer Erinnerung behalten. In der lustigen Gesellschaft der beiden Hausfrauen, unserer Tante Clara und ihrer Schwägerin Else, fühlte sie sich so wohl wie früher beim Spiel mit den Gassenjungen. Sie schloß sich aber auch an die ernste Tante Mika an und nahm erzieherische Anregungen von ihr dankbar und leichter als zu Hause an. Als sie dann unsern Haushalt übernahm, bekam er einen andern Zuschnitt als früher. Rein äußerlich wurde das dadurch ermöglicht, daß unsere wirtschaftliche Lage sich wesentlich gebessert hatte. Es entsprach aber auch ihrer Natur. Während die beiden älteren Schwestern immer mit äußerster Sparsamkeit wirtschafteten, war es ihr ein Bedürfnis, reichlicher zu geben. Sie selbst hatte als Kind gern genascht und war als junges Mädchen übermäßig stark; später war sie für ihre Person mehr als genügsam, und von der früheren Fülle blieb keine Spur übrig. Es freute sie, wenn es uns schmeckte, und sie dachte sich gern von Zeit zu Zeit neue Leckerbissen aus. Ihre selbstgebackenen Kuchen sind allmählich in der ganzen Verwandtschaft und Bekanntschaft berühmt geworden.

Weil ich immer etwas blaß und blutarm war, wurde ich mit besonderer Fürsorge betreut. Wenn ich mit ihr in die Stadt ging, um Besorgungen zu machen, unterließ sie es selten, mit mir in eine kleine Konditorei zu gehen und mir ein Stück Apfelkuchen mit Schlagsahne geben zu lassen, oder im Sommer ein Glas Eis mit Schlagsahne. Ich bat nie darum; aber wenn wir in die Nähe unseres Stammlokals kamen (die Konditorei von Illgen in der Schmiedebrücke, wo es solche Herrlichkeiten für 15 Pfg. gab), schielte ich unwillkürlich etwas nach dem Schaufenster hin, und dann wandte sie sich wortlos dem Eingang zu. Eine besondere Liebe hatte sie zu kleinen Kindern; viele kleine Vettern und Cousinen, später Neffen


  1. Hier fehlt 1 Blatt (Blatt 75) im Manuskript. Diese bedauerliche Lücke gerade an dieser Stelle des Manuskripts ist nicht schwer zu erklären. Welch anderes überempfindliches Herz hätte der Versuchung widerstanden, Jugendschwächen vor dem grellen Licht der Geschichte zu verbergen? Welch hoher Grad von Selbstverleugnung spricht aus der Tatsache, daß hier nur ein einziges Blatt entwendet wurde.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/38&oldid=- (Version vom 31.7.2018)