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und Nichten, sind in den ersten Lebenswochen und -jahren von ihr mit betreut worden. Mit größeren Kindern verstand sie es weniger gut. Sie redete dann zu viel über alle kleinen Unarten; das kühlte die kindliche Liebe ab, ohne ihr den nötigen Respekt zu verschaffen. Sie hat dadurch viel weniger Dank geerntet als sie wirklich verdiente.

In den letzten Jahren hat sie mit Freude Abendkurse der Volkshochschule, literarische und kunstgeschichtliche, besucht und mit großem Eifer darin mitgearbeitet. Sie hat allmählich auch einen Kreis von Menschen gefunden, mit denen sie freundschaftlich verkehrt und die sie hochschätzen. Vor allem aber hat ihre religiöse Entwicklung ihr eine Welt erschlossen, die es ihr ermöglicht, auf alle äußere Befriedigung zu verzichten und still an ihrem Platz auszuharren. Darüber werde ich später noch mehr sagen müssen.


5.

Während die älteren .Geschwister ziemlich dicht aufeinander folgten, sind wir Jüngsten „nachgeboren“. Zwischen Rosa und Erna ist ein Abstand von 6 Jahren: wir beide sind nur um ein Jahr und 8 Monate auseinander. Wir sind in der Zeit des Aufstiegs unserer Familie herangewachsen. Es wurde in unsern Kinderjahren in Wohnung, Nahrung und Kleidung noch die größte Einfachheit gewahrt, aber wir hatten nicht das Gefühl, arm zu sein. Wir sahen, daß unsere Mutter von morgens bis abends schwer arbeitete, und darum war es uns selbstverständlich, keine unbescheidenen Wünsche zu äußern. Meine Mutter sorgte von selbst dafür, daß wir hinter andern Kindern nicht zurückstehen mußten. Wir sind zeitweise drei auf einmal in dieselbe Schule gegangen, und für das dritte Kind hätte kein Schulgeld gezahlt werden müssen. Aber das nahm meine Mutter nicht an. Es wäre ihr als „öffentliche Armenunterstützung“ erschienen, und davon wollte sie nichts wissen. Noch heute kann sie es sich nur mit einem Mangel an Ehrgefühl erklären, wenn Leute „stempeln gehen“. Wir durften uns nie von einem Schulausflug, nie von einer Sammlung ausschließen. Dagegen wurde an Schulbüchern gespart; wir bekamen sie zu unserm Leidwesen nur im äußersten Notfall neu gekauft, sonst mußten wir sie von älteren Vettern und Cousinen leihen. Meine Mutter duldete es nicht, wenn wir nach Schülerart in unehrerbietiger Weise von unsern Lehrern sprachen. Wir hatten Gesang- und Schönschreibunterricht – in den Vorschulklassen auch Rechnen und Naturkunde – bei einem alten Volksschullehrer, der zu allem andern als zum Erziehen geboren

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/39&oldid=- (Version vom 31.7.2018)