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war. In seiner Jugend mußte er ein schöner Mann gewesen sein, später war er unförmig dick. Er war sehr gutmütig, aber jähzornig. Während der Stunde regnete es Tadel und andere Strafen, aber sobald es zur Pause läutete, wurde alles wieder erlassen. In der Tasche hatte er immer eine Schnupftabakdose und eine Bonbontüte, die abwechselnd hervorgezogen und benützt wurden. Es gab für uns keinen größeren Schrecken, als wenn wir aus dieser Tüte zur Belohnung etwas geschenkt bekamen. Wenn wir zu Hause erzählen wollten, was „der Freier“ sich wieder geleistet hätte, unterbrach uns meine Mutter und verbesserte: „Der Herr Professor Dr. Freier“.

Sie ging fast nie in die Schule, um mit den Lehrern Rücksprache zu nehmen. Ein einzigesmal hat sie sich entschlossen, über eine Lehrerin Klage zu führen: die Zeichenlehrerin hatte meiner Schwester Erna vorgeworfen, sie hätte unerlaubterweise ein Lineal benützt und es dann abgeleugnet. Dem Kinde, das nicht begabt zum Zeichnen war, war eine Linie einmal ausnahmsweise geglückt, und das trug ihr diese Verdächtigung, einen Tadel und Anzeige beim Direktor ein. Den Vorwurf der Lüge wollte meine Mutter auf ihrem Kinde nicht sitzen lassen. Lehrer und Eltern von Mitschülerinnen, die meine Mutter niemals gesehen hatten, fragten uns oft nach ihr und versicherten uns, wir dürften stolz auf sie sein. Das war mir immer etwas peinlich. Es war für uns so selbstverständlich, daß sie war, wie sie war. Sommer und Winter stand sie in aller Morgenfrühe auf und ging auf den Holzplatz. Wohnung wie Lagerplatz waren viele Jahre hindurch gemietet, und sie hat viel von bösen Wirtsleuten leiden müssen. An die Wohnung in der Kohlenstraße, in der ich geboren wurde, habe ich nur eine einzige Erinnerung; es ist die früheste, die ich überhaupt habe. (Sie muß aus meinem 2. Lebensjahr stammen, denn bald nach dem Tode meines Vaters zogen wir um). Ich sehe mich schreiend vor einer hohen weißen Tür stehen und mit beiden Fäusten dagegen trommeln, weil meine ältere Schwester dahinter war und ich zu ihr wollte. Auch von der nächsten Wohnung, in der Scheßwerderstraße, wo auch unser erster Lagerplatz war, weiß ich nichts mehr. Sehr gut ist mir dagegen die Wohnung Jägerstr. 5 in Erinnerung; dort habe ich meinen 3. Geburtstag gefeiert, und wir haben viele Jahre darin gewohnt. Den Lagerplatz hatten wir damals in der Rosenstraße; er grenzte an den Hof unseres Wohnhauses. Um meiner Mutter den Weg abzukürzen, ließ der Hauswirt, Herr Böse, meiner Mutter ein Pförtchen in die Mauer machen. Das ging so lange, bis Herr Böse mit der Inhaberin des Lagerplatzes in Streit geriet. Frau Olschowka war eine leidenschaftliche Polin (Viktor, der zugehörige Ehegatte, spielte eine untergeordnete Rolle). Zum Zeichen, daß zwischen den feindlichen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/40&oldid=- (Version vom 31.7.2018)