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sie noch heute) nach Hause. Eine kleine Holzbude war, so lange das Lager auf der Rosenstraße war, das „Kontor“. Als er nach der Elbingstraße auch noch auf einen gemieteten Platz verlegt wurde, kaufte man ein etwas größeres, transportables Holzhäuschen. Schließlich konnte es meine Mutter wagen, einen großen eigenen Lagerplatz, der ihr angeboten wurde, zu kaufen. Dort wurde ein fester, gemauerter Schuppen und anschließend ein Kontor gebaut. Einen großen Teil des Tages war meine Mutter aber immer im Freien. Sie ging mit den Kunden umher, um die gewünschten Waren auszusuchen, vermaß und berechnete, was ausgesucht war; sie war zugegen und legte mit Hand an, wenn Wagen ausgeladen und die neuen Sendungen eingeräumt wurden; und wenn ein Handwagen mit Brettern – von einem Arbeiter und, in früheren Jahren, von einem großen Hund gezogen – hinausfuhr, half sie von hinten stoßen, bis er zum Tor hinaus war. Auf dem geräumigen, eigenen Grundstück konnte sie es sich auch gönnen, einen Teil für Gemüse- und Obstbau zu nehmen. Noch heute ist es ihre Freude, sich täglich von dem Wachstum zu überzeugen und Erdbeeren, Bohnen, Erbsen und Tomaten selbst zu pflücken. Gewiß hat der ständige Aufenthalt in frischer Luft dazu beigetragen, sie bis ins hohe Alter rüstig und frisch zu erhalten. Auch bei bitterer Winterkälte kam sie gewöhnlich mit warmen Händen nach Hause und konnte mir noch die meinen wärmen. Das ist mir immer ein Symbol dafür gewesen, daß alles Leben und alle Wärme im Hause von ihr kam. Aber rechtschaffen müde war sie, wenn sie abends heimkam. Zuerst mußten immer die Schuhe von den schmerzenden Füßen. Zum Abendessen nahm sie am liebsten nur Tee und Butterbrot. Und wenn nichts Dringendes vorlag, ging sie dann bald zu Bett. Dabei sagte sie gewöhnlich mit großem Behagen: „Das Beste auf der Welt ist mein Bett“. Weil sie selbst die Ruhe so nötig hatte, war es ihr immer schrecklich, jemand anders zu wecken. Sie hat oft gesagt: „Es ist die größte Sünde, einen Menschen im Schlaf zu stören“. Das wirkt bei mir heute noch nach. Wenn ich früh den Kopf aus den Kissen hob, winkte sie mir gewöhnlich ab: „Bleib, bleib, es ist noch lange Zeit“.

Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt hatte, ließ sie sich sehr gern noch vorlesen. Mit der größten Freude besorgte das mein ältester Bruder, und er war mit solchem Eifer dabei, daß er von Zeit zu Zeit fragte: „Hörst du?“. Meine Mutter fuhr dann auf, sagte: „Ja, ja“ und schlief sofort wieder ein. Sie träumte sehr lebhaft und sprach oft laut aus dem Schlaf, manchmal so, daß man ganze Zwiegespräche verfolgen konnte. Bis zu meinem 6. Jahre schlief ich bei meiner Mutter; viele von den vorgelesenen Erzählungen, die sie verschlief, habe ich angehört, was natürlich keineswegs beabsichtigt

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/44&oldid=- (Version vom 31.7.2018)