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war. Das war noch in der Jägerstraße. Die Wohnung bestand dort aus drei großen Zimmern und einem „Kabinett“. Das „gute Zimmer“ bewohnte meine Schwester Else. Sie hatte einen Schreibtisch darin und arbeitete oft bis in die Nacht hinein; manchmal löschte ihr meine Mutter die Lampe aus. Ein zweites Zimmer hatten „die Jungen“. „Die Mädel“ mußten sich mit dem fensterlosen Kabinett begnügen, das nur von dem Schlafzimmer meiner Mutter Licht und Luft bekam. Wenn ich mich recht erinnere, haben sie anfangs auch Erna noch bei sich gehabt. Später waren wir beide bei der Mutter untergebracht. In diesem Zimmer stand auch der große Eßtisch.

Zeitweise war das „gute Zimmer“ noch an einen Studenten vermietet. Einmal war es ein Jurist aus guter katholischer Familie. Es war fast unvermeidlich, daß er sich in meine schöne Schwester Else verliebte. Es kam auch zur Verlobung; sie wurde aber wieder gelöst, wohl weil beide Familien wegen der Glaubensverschiedenheit dagegen waren.

Zu den Abendgeschäften gehörte das „Kassemachen“. Die Losung des Tages mußte festgestellt und in ein Kassenbuch eingetragen werden. Es waren oft Geldrollen dabei, die aufgemacht und nachgezählt werden mußten. Mit solchen Rollen spielte ich gern. Einen Kunden gab es, der gewöhnlich mit Rollen von Geldstücken zahlte. Die gefielen mir besonders gut, und ich bat oft: „Gib mir doch eine Pukade“. (Das war der Name des Kunden). Überhaupt lernten wir unversehens die Kunden und den ganzen Geschäftsbetrieb kennen. Meist waren es Handwerker, mit denen meine Mutter zu tun hatte. Sie kannte von jedem die ganze Familiengeschichte. Die erfuhr sie gewöhnlich, wenn die Leute Waren ohne Geld haben wollten oder die Wechsel, mit denen sie zahlten, nicht einlösen konnten. Meine Mutter ist immer wieder ihrem guten Herzen gefolgt; manchmal hat sie den „faulen Kunden“ noch Geld hinzugegeben, wenn sie in Not waren. Sie ist viel betrogen worden, und das Geschäft hat immer mit großen Verlusten gearbeitet. Trotzdem ging es voran. Meine Mutter hat das immer dem Segen von oben zugeschrieben. In späterer Zeit, als ich meinen Kinderglauben verloren hatte, sagte sie mir einmal, gleichsam als ihren Gottesbeweis: „Ich kann mir doch nicht einbilden, daß ich alles, was ich erreicht habe, meiner Kraft verdanke“. Das war gewiß richtig. Aber ihre natürlichen Gaben haben doch auch mitgewirkt. Eines Tages besuchte uns eine alte Freundin meiner Mutter und sagte: „Ich muß euch doch gleich erzählen, was ich eben in der Straßenbahn gehört habe. Ein paar Herren unterhielten sich vom Breslauer Holzhandel, und einer sagte: „Wissen Sie, wer hier der tüchtigste Kaufmann in der ganzen Branche ist? Das ist die Frau Stein ...“


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/45&oldid=- (Version vom 31.7.2018)