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II
Aus der Welt der beiden Jüngsten


1.

Die Mutter, die Geschwister, der große Verwandtenkreis, der Holzplatz – das war die Welt, in der die beiden Jüngsten heranwuchsen. Meine Schwester Erna und ich lebten miteinander wie Zwillinge. Sie ist ein Jahr und acht Monate älter als ich – als kleines Kind fragte ich einmal, wie es käme, daß sie manchmal l Jahr und manchmal 2 Jahre älter sei – und wir waren äußerlich und innerlich sehr ungleiche Zwillinge. Erna war immer groß und kräftig für ihr Alter, hatte zwei lange und dicke braune Zöpfe, große dunkle Augen, das Gesicht weiß und rosig wie ein Schneewittchen. Ich war klein und zart, trotz aller Pflege immer blaß, die damals blonden Haare (später sind sie nachgedunkelt) trug ich meist offen, nur mit einem Band zusammengehalten. So hielt man dem Äußeren nach Erna meist für viel älter als mich. Freilich, sobald ich zu reden anfing, staunte man, was für eine Naseweisheit der „Knirps“ entfaltete. Im zoologischen Garten meines Bruders war Erna die „Krähe“ und ich die „Mietzekatze“. Ob ich den Namen dem Umstand verdankte, daß meine großen Brüder gern mit mir wie mit einem Kätzchen spielten, oder der Farbe meiner Augen oder der Gewandtheit, mit der ich mich in allen Ringkämpfen mit den Großen immer auf den Füßen zu halten wußte und niemals „unterkriegen“ ließ, das weiß ich nicht. Die Krähe besagte jedenfalls, daß Erna leicht zu reizen war, daß ihre Zornesausbrüche sich aber zu Rosas verhielten wie das Schreien der Krähe zum Gebrüll des Löwen. Es waren nur leichte und rasch vorüberziehende Gewitter.

Im übrigen war sie ein gutes und leicht lenkbares Kind. Die älteren Schwestern sagten von ihr gelegentlich, sie sei durchsichtig wie klares Wasser, während sie mich ein Buch mit sieben Siegeln nannten. Wir waren als Kinder fast nie getrennt, machten gemeinsam unseren Schulweg und unsere Ferienreisen, trugen gleiche Kleider (die neuen Sommerkleider bekam ich gewöhnlich im Februar zu Ernas Geburtstag, die neuen Winterkleider im Oktober zu meinem). So lange unsere Lektüre von den älteren Schwestern sorgfältig überwacht und bestimmt wurde, lasen wir auch dieselben Bücher – dagegen protestierte Erna gelegentlich, weil sie doch älter sei und ich darum

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/46&oldid=- (Version vom 31.7.2018)