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erst später an dieselben Sachen herandürfte, Aber das war nur eine augenblickliche Anwandlung. Für gewöhnlich war sie mit dem Zwillingsdasein sehr zufrieden. Wir hatten auch unsere Freundinnen wenigstens so weit gemeinsam, daß eine von denen der andern mit eingeladen wurde. Erna kam ganz normal nach beendetem 6. Lebensjahr zur Schule; sie tat ihre Pflicht, ohne sich besonders anzustrengen, war immer eine recht gute, aber keine hervorragende Schülerin. Ehrgeiz war ihr völlig fremd, außerhalb der Schule zeigte sie keine besonderen wissenschaftlichen Interessen. Leichte Unterhaltungsbücher las sie gern, wie das Lesen in unserer Familie überhaupt eine große Rolle spielte; nach schwerer Kost hatte sie kaum Verlangen.

Als sie in der 1. Klasse der höheren Mädchenschule war, äußerte sie den Wunsch, danach in das Mädchenrealgymnasium überzugehen, das seit einigen Jahren darauf aufgebaut war; er wurde ihr ohne weiteres gewährt. Sie war damals noch nicht für ein bestimmtes Studium entschieden. Ich hatte den Eindruck, daß es ihr überhaupt noch nicht um einen Beruf zu tun war; sie wollte gern noch länger in der gewohnten und lieben Umgebung bleiben, der Entschluß einer Freundin wirkte wohl auch etwas mit. Es war aber bei der ganzen Einstellung unserer Familie selbstverständlich, daß der Gymnasialbesuch keine Luxusangelegenheit sein konnte, sondern Vorbereitung auf ein ernstes Berufsstudium. Da sie neue Sprachen gern und leicht lernte, dachte sie am ehesten an das Philologiestudium. Ich hatte schon mit 6 Jahren, als unsere Schwester Else das Lehrerinnenexamen machte, erklärt, ich wollte auch Lehrerin werden. So malten sich unsere Verwandten gern aus, wie wir später einmal gemeinsam unsern Beruf ausüben würden. Aber es sollte anders kommen. Als Erna ihr Abitur gemacht hatte, lud unser Onkel David, ein Bruder meiner Mutter, sie für ihre „Muluszeit“ zu sich ein und mich zur Gesellschaft mit. Es waren herrliche Ferien in dem großen Apothekershaus in Chemnitz. Meine Tante war das einzige Kind sehr wohlhabender Eltern und verstand es, ein großes Haus zu führen, sich mit erlesenem Geschmack zu kleiden und für gesellige Freuden zu sorgen. Da sie selbst keine Töchter hatte, fand sie einen besonderen Reiz darin, die jungen Nichten wenigstens für die Dauer des Besuchs in elegante Damen zu verwandeln. Die Freunde des Hauses bemühten sich um die Wette, uns zu erfreuen: Kahnfahrten, Autopartien, Theaterbesuche und Abendeinladungen wechselten einander ab. Aber unser guter Onkel hatte noch eine ernstere Absicht. Nach seiner Auffassung war für uns das Medizinstudium das einzig sinnvolle. Er wollte uns beide für den ärztlichen Beruf gewinnen und sah uns schon im Geist in einer gemeinsamen Privatklinik mit verschiedenen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/47&oldid=- (Version vom 31.7.2018)