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Spezialfächern einander in die Hände arbeiten. Da ich noch 2 Jahre Zeit hatte bis zum Beginn des Studiums, beschränkte er sich vorläufig darauf, meine Schwester in vertraulichen Unterredungen zu bearbeiten. Jeden Abend, wenn wir in unserm gemeinsamen Schlafzimmer allein waren, sagte ich: „Laß Dich nicht beeinflussen; tu, was Du selbst für das Richtige hältst“. Und sie versicherte, daß sie festbleiben werde. Aber meine Ferien gingen schneller zu Ende als die ihren, und sie blieb nach meiner Abreise noch einige Wochen zurück. Kurz vor ihrer Heimkehr schrieb sie an meine Mutter, es sei ihr Wunsch, Medizin zu studieren und sie bäte um die mütterliche Einwilligung. Meine Mutter stimmte zu, weil sie uns gerade in dieser Frage frei entscheiden lassen wollte. Ich glaube nicht, daß Erna ihre Wahl je bereut hat. Sie hat das anstrengende Studium, zeitweise unter mancherlei körperlichen Beschwerden, zu Ende geführt und ihren Beruf gründlich erlernt. Wenn ich ihr später manchmal in der Sprechstunde half, sah ich mit stiller Freude, mit welcher Ruhe und Sicherheit sie ihn ausübte – einer Ruhe und Sicherheit, wie sie ihr im persönlichen Leben keineswegs im selben Maß eigen war. Ich habe hier zum ersten Mal den Wert einer festen Lehrtradition erfahren. – Als ich 2 Jahre nach meiner Schwester die Reifeprüfung bestand, wurde ich wiederum liebevoll nach Chemnitz eingeladen. Ich sagte mit freudigem Dank zu, fügte aber sogleich bei, meine Berufswahl sei getroffen und stünde nicht mehr zur Diskussion. Vor dieser Erklärung streckte mein Onkel die Waffen. Er machte nicht den mindesten Versuch, mich umzustimmen. Zu meiner Schwester äußerte er einige Monate später, vielleicht werde er als alter Mann einmal vor mir den Hut abnehmen müssen, aber vorläufig habe er für eine Berufswahl rein nach persönlicher Anlage und Neigung kein Verständnis.

Ich bin mit dieser Erzählung den Ereignissen weit vorausgeeilt, aber diese Tatsachen schienen mir besonders kennzeichnend für uns beide. In unserer Kindheit spielte die Schule eine große Rolle. Ich glaube fast, daß ich mich dort heimischer fühlte als zu Hause. Unser Schulhaus auf dem Ritterplatz war ein ehemals Schaffgotsch’sches Palais, moderner Schulhygiene wenig entsprechend, aber mit romantischen Ecken und Winkeln. Gegenüber lag das schöne Kloster der Ursulinen; auf dem freien Platz davor, unter den hohen, alten Bäumen durften wir um 10 Uhr, in der „großen Pause“, spazierengehen. Der gestrenge Herr Direktor (im Schülerjargon „Rex“ genannt), die Lehrer und Lehrerinnen kannten schon unsere älteren Schwestern und von den An- und Abmeldungsbesuchen meine Mutter. Und auch wir waren durch die Erzählungen der älteren Geschwister schon mit der Schule vertraut und verwachsen,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/48&oldid=- (Version vom 31.7.2018)